Fast ein Jahr ist es her, dass Russland in der Ukraine einen Angriffskrieg begonnen und die Bundesregierung in der Folge eine "Zeitenwende" ausgerufen hat. Der politische Bruch ist auch zu einem gesellschaftlichen geworden, die Stimmung in der Bevölkerung ist so stark in Bewegung geraten wie seit vielen Jahren nicht. Anders als andere Konflikte hat der Krieg in der europäischen Nachbarschaft die Angst vor einer Ausweitung der Kämpfe massiv anwachsen lassen. 85 Prozent sind über den Krieg in der Ukraine sehr besorgt. 63 Prozent fürchten, dass Deutschland in militärische Konflikte hineingezogen wird. Das ist das Ergebnis des Sicherheitsreports, den das Institut für Demoskopie in Allensbach (IfD) seit 2011 jährlich für das Centrum für Strategie und Höhere Führung erstellt.
Diese Sorge beeinflusst auch die Weltsicht der Menschen im Land: Während Rüstungsausgaben früher kaum ein Thema waren, mit dem die Politik bei ihren Wählerinnen und Wählern punkten konnte, sagen inzwischen 67 Prozent der Befragten, dass der Staat mehr Geld in die eigene Verteidigungsfähigkeit investieren sollte – 2017 lag die Zahl noch bei 44 Prozent.
"Man sieht an den Daten, dass ich in der Weltsicht der Bevölkerung eine Menge tut", sagt Renate Köcher, Chefin des IfD Allensbach. Viele Menschen fühlten sich vom Krieg in der Ukraine ganz unmittelbar berührt. Sie hätten den Eindruck, die Lage in der Welt und in Europa werde unsicherer. Dass die Sorge vor militärischen Auseinandersetzungen so weit oben in der Liste der Ängste stehe, "das ist ein Novum, das haben wir Jahrzehnte nicht gehabt". Dabei spiele aber auch die Kommunikation von Bundeskanzler Olaf Scholz eine große Rolle, der die Sorge vor einer deutschen Beteiligung am Krieg immer wieder äußert und damit in der Bevölkerung wachhält.
Noch vor wenigen Jahren sei das Thema „Kriegsangst“ ein Orchideen-Thema gewesen, bestätigt auch Klaus Schweinsberg vom Centrum für Strategie und Höhere Führung, also ein Thema, das von den Menschen nur selten angeführt wurde. „Das hat sich leider geändert“, sagt er. Russland von der deutschen Bevölkerung inzwischen mit Abstand als größte Bedrohung für den Frieden in der Welt wahrgenommen.
Mehrheit der Deutschen ist gegen ein Bekenntnis zu Nato-Bündnispflichten
Und doch hat die Bereitschaft der Deutschen, für die eigene Sicherheit einzutreten, ihre Grenzen: Auf die hypothetische Frage, ob Deutschland sich aktiv an einem Militäreinsatz beteiligen sollte, wenn Russland eines der baltischen Länder überfallen würde, antworteten nur 40 Prozent der Befragten mit "ja". Die Mehrheit würde sich also lieber raushalten.
In Artikel Fünf des Nato-Bündnisvertrags ist geregelt, dass die Partner einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen als Angriff gegen alle ansehen. Sie verpflichten sich, Beistand zu leisten. Konkret heißt es, dass es dabei um die für sie als erforderlich erachteten Maßnahmen geht, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten – einschließlich Waffengewalt. "Dass es unter den Deutschen kein klares Bekenntnis zu den Bündnisverpflichtungen in der Nato gibt, ist erschreckend. Die Nato-Partner, vor allem im Osten, werden mit Sorge und Unverständnis auf diese unsolidarische Haltung in der deutschen Bevölkerung blicken und von der deutschen Politik hier ein klares Bekenntnis einfordern", betont Schweinsberg. Auffällig: Während der Anteil derer, die sich für eine Beteiligung an einem Nato-Einsatz aussprechen, bei den Grünen deutlich gestiegen ist, ist er bei den Anhängern der SPD am geringsten. Auch damit lasse sich wohl das Handeln des Kanzlers erklären.
Materielle Ängste der Deutschen steigen steil an
Ganz vorn auf der Liste der Sorgen der Deutschen steht vor dem Krieg in der Ukraine das Thema Inflation – da sind die materiellen Ängste seit der letzten Umfrage vor einem Jahr noch einmal deutlich gewachsen. Aber auch der Klimawandel und seine Folgen sind präsent in den Köpfen. "Es ist nicht so, dass der Klimawandel für die Menschen in den Hintergrund gerückt ist", sagt Köcher. "Tatsächlich sehen wir beim persönlichen Bedrohungsgefühl seit zwei Jahren einen langsamen, aber kontinuierlichen Anstieg." Weit abgeschlagen ist inzwischen die Pandemie. "Das ist für die Bevölkerung kein Thema mehr", sagt die Meinungsforscherin.