Es kommt nicht oft vor im Leben und in der Politik noch viel seltener, dass die Unterscheidung zwischen schwarz und weiß so eindeutig ist, dass die Grautöne gar nicht anders können, als sich in Luft aufzulösen, weil sie vor den Tatsachen kapitulieren müssen. Im Krieg, mit dem der russische Präsident sein Nachbarland vor einem Jahr überzogen hat, ist für den demokratischen Westen kein Vertun möglich: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg spricht ein Autokrat mitten in Europa einem anderen Land das Existenzrecht ab. Eine Atommacht stürzt die Welt in die tiefste Krise seit Jahrzehnten.
Das Stimmengewirr im noblen Hotel Bayerischer Hof in München scheint noch aufgeregter als sonst. Von der Decke des großen Konferenzsaales heizen die Lichter, schwere Teppiche versuchen die Gespräche zu dämpfen. Rund um das Gebäude mitten in der Innenstadt haben sich tausende Polizisten positioniert. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden noch einmal verschärft. Die größte amerikanische Delegation. Die größte britische Delegation. Die Sicherheitskonferenz ist eines der wichtigsten Treffen nicht nur der internationalen Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker. In diesem Jahr aber stehen die vor den Trümmern dessen, woran sie geglaubt, worauf vielleicht auch nur gehofft hatten: eine tragfähige internationale Ordnung, die nicht immer perfekt ist, aber in ihren Grundzügen doch zu funktionieren schien.
Dmytro Kuleba ist etwas außer Atem. Der Mann mit der runden Brille und dem akkurat gefalteten Einstecktuch eilt von einem Termin zum nächsten. Gerade kommt er von einem Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie. "Die Rüstungsindustrie erlebt gerade eine Wiedergeburt", sagt Kuleba. Der 41-Jährige ist ukrainischer Außenminister und einer der Männer, die für Präsident Wolodymyr Selenskyj durch die Welt reisen und für Waffenlieferungen werben. Panzer, Flugabwehrsysteme, Munition. An diesem Wochenende hat er in München gehörig für Aufregung gesorgt, als er die Lieferung von Streubomben und Phosphor-Brandwaffen ins Spiel bringt – beides sind Waffen, die wegen ihrer verheerenden Wirkung seit Jahren international geächtet sind. Kuleba muss nicht nur gegen Putin kämpfen, er kämpft auch gegen eine aufziehende Kriegsmüdigkeit im Westen. Bei ihm selbst ist von Müdigkeit nichts zu spüren. Der Minister ist kein Haudrauf wie Ex-Botschafter Melnyk, er ist kein charismatischer Held wie Selenskyj. Eine knappe Woche bevor sich der Einmarsch der russischen Armee in sein Heimatland jährt, hat sich bei ihm so etwas wie Pragmatismus eingestellt. Zumindest könnte man das so deuten, wenn er sagt: "Die Ukraine wird Kampfflugzeuge bekommen, es ist nur eine Frage der Zeit." Auch bei anderen Waffen, bei Munition, bei Kampfpanzern hat er immer wieder ein Nein kassiert, bis sich der Westen schließlich doch durchringen konnte. Deutschland wollte noch vor einem Jahr seine Unterstützung auf die Lieferung von einigen tausend Helmen beschränken – inzwischen hat es die Prinzipien seiner Politik auf links gedreht. Kuleba hofft, dass es bei den Jets, die Kiew seit Wochen einfordert, genauso sein könnte.
Krieg in der Ukraine wird nicht schnell enden
Vor ihm und seinem Volk liegt nach allem, was man heute einschätzen kann, ein weiter und harter Weg. Darüber macht man sich auch im Westen keinerlei Illusionen. "Ich denke, es ist weise, sich auf einen langen Krieg vorzubereiten", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz. Trotzdem sind sich die Staats- und Regierungschefs, die sich in München treffen, einig: Es ist nicht die Zeit für Verhandlungen mit Putin. Nicht, weil sie selbst es nicht wollten. Der russische Präsident ist es, der alle Hoffnungsschimmer zunichtemacht. "Nicht unsere Waffenlieferungen sind es, die den Krieg verlängern", sagt Scholz. Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, nehmen Putins Truppen die Menschen in diesen Tagen in Bachmut unter Dauerbeschuss, während die Redner in München auf der Bühne stehen, regnet es Bomben. Die ukrainische Stadt ist beinahe völlig zerstört. Und nicht nur die: Millionen Menschen wurden im vergangenen Jahr aus ihrer Heimat vertrieben, tausende wurden verletzt, vergewaltigt, traumatisiert. Die USA gehen davon aus, dass auch rund 200.000 Russen im Krieg gegen die Ukraine getötet oder verwundet wurden.
Die nächsten Wochen könnten für den weiteren Verlauf des Krieges entscheidend sein. Gelingt es der Ukraine, der russischen Offensive standzuhalten? Es ist dieses Dilemma, mit dem nicht nur die Vertreter bei der Sicherheitskonferenz leben müssen. Die Besonnenheit des Westens mit all seinen Zwängen steht der Brutalität Russlands gegenüber. Ein Russland, das eines Tages zurückkehren wird in den Kreis der Europäer. Denn, das machte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an diesen Tagen auch deutlich: "Niemand kann die Geografie ändern." Ohne Russland gebe es keinen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent. Aber wie kann dieser Frieden erreicht werden? Wann ist es ein gerechter Friede und nicht nur ein eingefrorener Konflikt, der jederzeit wieder aufbrechen kann? "Es gibt kein anderes Land, das dringender will, dass dieser Krieg endet als wir – wir opfern uns dafür", sagt Kuleba. "Wir wollen alle Frieden. Aber nicht um jeden Preis, nicht auf Kosten der Ukraine." Sein Land werde keine territorialen Zugeständnisse machen, es werde sich nicht wieder mit Kontaktlinien und Separatistengebieten einverstanden zeigen. "Es sind keine Kompromisse möglich, nicht über den geringsten Quadratmeter." Ob sie einem Einbrecher erlauben würde, um des lieben Friedens willens das Schlafzimmer ihrer Wohnung zu besetzen, fragt er eine Journalistin. Es sei einfach, Zugeständnisse zu machen, wenn es um das Gebiet eines anderen Volkes gehe. "Wenn die Verbündeten in den 1940er Jahren aufgehört hätten, gegen die Nazis zu kämpfen, nur weil es zwischendurch schwierig wurde, würden wir heute in einer anderen Welt leben", sagt Kuleba.
Russland greift die internationale Ordnung an
Tatsächlich ist es diese große Frage, die alle in München umtreibt: Was geschieht, wenn Russland gewinnt? Welche Regeln werden dann gelten? "Es geht um Recht und Gerechtigkeit", sagt Annalena Baerbock. Der Weltfrieden basiere "darauf, dass wir alle die territoriale Integrität und Souveränität eines jeden Landes anerkennen" "Es geht um mehr als nur um die Sicherheit und die Souveränität eines einzelnen Landes", stellt der britische Premier Rishi Sunak klar. "Putin trampelt auf dem internationalen Recht herum", sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Wenn Putin in der Ukraine gewinnt, bekommen er und andere autoritäre Herrscher die Botschaft, dass sie zu Gewalt greifen können und alles bekommen, was sie wollen", sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Putins Revisionismus wird nicht siegen", verspricht Kanzler Scholz. "Der russische Angriff muss scheitern, wir dürfen nicht zulassen, dass der Rückgriff auf Gewalt alltäglich wird", sagt Emmanuel Macron. Die düstere Ahnung, dass sich der russische Präsident ermutigt fühlen könnte, seinen brutalen Griff auf weitere Länder auszuweiten, treibt die internationale Politik um. Steht die Welt gerade vor einer Weggabelung, die sich als historisch erweisen wird? Die Sorge, dass sich das Recht des Stärkeren gegen die Stärke des Rechts durchsetzt, ist allgegenwärtig in den Sälen und Gängen des "Bayerischen Hofes". Mehr helfen müsse man deshalb der Ukraine, schneller helfen, aber auch sicherstellen, dass man sich einen möglichst langen Atem bewahrt. Deutschland schraubt seine Verteidigungsausgaben nach oben, Deutschland bildet ukrainische Soldaten an den Leopard-Panzern aus, Deutschland drängt die Rüstungsindustrie, ihre Produktion zu erhöhen. Die Politik hatte schon einfachere Aufgaben vor sich.
"Die Welt hat sich verändert", begründet Außenministerin Baerbock den Wandel, den nicht nur Deutschland, sondern auch sie persönlich in diesem Jahr durchlebt hat. "Am 24. Februar 2022 ist zumindest meine Welt eine komplett andere geworden." Wenn die europäische Friedensordnung angegriffen werde, müsse sich die Politik eingestehen, dass die Glaubenssätze von früher ihre Gültigkeit verloren hätten. "Wir können uns die Welt nicht so malen wie wir sie gerne hätten", sagt die Grünen-Politikerin. Es ist nicht nur Selbsterkenntnis, sondern auch Appell. Denn während Deutschland sich bewegt hat, bleibt es in anderen Ländern bei Worthülsen, es hakt beim Nachschub unter anderem von Munition. "Ich bin eine Freundin offener Worte", sagt Baerbock, "da sind zwei Staaten in der Welt, die diese Munition haben." Ganz so offen ist sie dann doch nicht, die Namen der Länder spricht sie nicht aus, doch die Schweiz und Brasilien dürften sich angesprochen fühlen. Beide wollen im Konflikt eine neutrale Position einnehmen. Doch längst gilt die Losung: Wer versucht, neutral zu bleiben, hilft indirekt dem Angreifer Russland.
"Russland verfeuert an einem Tag so viele Artilleriegranaten, wie in Europa in einem Monat produziert werden", sagt Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas. Die EU will deshalb im Beschaffungsverfahren ein ähnliches Vorgehen anwenden wie bei der Beschaffung von Impfstoffen während der Corona-Pandemie. EU-Staaten sollen Geld zur Verfügung stellen, mit dem dann über Brüssel gebündelt Großaufträge an die Rüstungsindustrie vergeben werden. Denn ohne Abnahme-Garantien werden die Firmen ihre Fließbänder nicht schneller laufen lassen.
Ausgerechnet China, dem Experten nachsagen, sich Taiwan einverleiben zu wollen, wirft den Teilnehmern der Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende so etwas wie einen Strohhalm zum Daran-Festhalten zu: In den nächsten Tagen wolle Staatschef Xi Jinping einen Friedensplan vorlegen. Wie der aussehen soll, weiß niemand. Die Hoffnungen halten sich in Grenzen. Viele Beobachter vermuten, dass Chinas Vorstoß vor allem taktisch motiviert ist, dass das Land von sich selbst ablenken will. Bislang hat Peking es nicht geschafft, den Aggressor Russland klar zu verurteilen. Das Misstrauen gegenüber China sitzt tief.
Konferenzleiter Christoph Heusgen steht für eine andere Russland-Politik
Am Ende ist man sich in München einig, dass es vor allem auf die Einigkeit der Verbündeten ankommen wird. "Wir haben mehr Durchhaltevermögen als Wladimir Putin", sagt Christoph Heusgen in seinem Schlusswort. Es ist Hoffnung und Selbstbeschwörung zugleich. Für Heusgen war diese 59. Sicherheitskonferenz seine Premiere als deren Leiter. Und irgendwie ist es auch so etwas wie eine Pointe des Schicksals. Heusgen, ein großgewachsener, schlanker Mann, war viele Jahre lang außen- und sicherheitspolitischer Berater von Angela Merkel. Ihre Kanzlerschaft gilt als einer der Gründe, weshalb Deutschland so tief in die Abhängigkeit von russischer Energie und damit von russischem Wohlwollen gerutscht ist.