Man muss keine Küchenpsychologie betreiben, um Wolfgang Ischinger in diesen Tagen eine gewisse Sentimentalität zu unterstellen. Zum letzten Mal organisiert der Spitzendiplomat die Münchner Sicherheitskonferenz, unter seiner Ägide war das Treffen zu einer der wichtigsten außenpolitischen Veranstaltungen weltweit aufgestiegen. Nun übergibt er an seinen Nachfolger. Wer den 75-Jährigen nach jenen Momenten fragt, die ihn in den vergangenen 14 Jahren am meisten beeindruckt haben, den erinnert er an so manche Begegnung, in der ausgerechnet im beschaulich-luxuriösen Hotel „Bayerischer Hof“ Weltgeschichte geschrieben wurde. Während draußen die Polizei das alljährliche Verkehrschaos orchestrierte, wurde drinnen verhandelt und gehandelt.
2011 etwa, als die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow auf offener Bühne die Ratifikationsurkunden des gerade ausgehandelten New-START-Abrüstungsabkommens austauschten. „Da spürte man schon den Mantel der Geschichte“, sagt Ischinger. Oder als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 direkt von Kiew und Moskau in die bayerische Hautstadt reiste und dort die Erfolge ihrer Reisediplomatie verkünden konnte. Europa, so glaubten viele, hat aus seiner Vergangenheit gelernt, hat gelernt, dass Kriege durch Reden verhindert werden können. Und die Sicherheitskonferenz bot die perfekte Bühne. Von dieser Überzeugung ist heute kaum mehr übrig als heiße Luft und viel Papier – der Mantel der Geschichte, so scheint es, ist löchrig.
Doch wer genau hinschaut, der findet in dem Münchner Treffen doch noch einen Schlüssel, der das Tor der weltpolitischen Erkenntnis öffnet. Es mag nicht mehr als ein Zufall sein, eine der eher mieseren Pointen des Schicksals: Genau 15 Jahre ist es her, dass Wladimir Putin dort seinen ersten Auftritt hatte. Im Kaisersaal zückte er den rhetorischen Säbel und ließ die Diplomaten im Raum verstummen. Russland, so verkündete er sichtlich erregt, sei als Weltmacht zurückgekehrt und diese Weltmacht sei nicht länger gewillt, die Ost-Ausdehnung der Nato hinzunehmen. Den USA warf er das Streben zu „monopolarer Weltherrschaft“ vor, sie hätten „ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten“. Das Wort eines neuen Kalten Krieges machte die Runde und ließ die Atmosphäre mit einem Mal frostig werden. Doch die Bedrohung wurde schnell beiseite gewischt, zu sehr hatte sich der Westen daran gewöhnt, dass niemand es in Betracht ziehen würde, ihm eine Partnerschaft auszuschlagen. Dass Putin seine Rede aus dem Jahr 2007 im Jahr 2022 mit einem Truppenaufmarsch untermauern würde – es schien unvorstellbar.
Die Angst vor einem Krieg ist allgegenwärtig
Heute zeigt sich, dass hinter Putins Wutrede mehr steckte als ein unkontrollierter Moment eines gekränkten Herrschers. Der russische Präsident verfolgt einen Plan, und der ist nicht neu: Er will Europäern und Amerikanern ihre Grenzen aufzeigen – und das wohl im wahrsten Sinne des Wortes. Und auch wenn weder er noch sein Außenminister Sergej Lawrow – sonst einer der treuesten Gäste – an diesem Wochenende in München anwesend sind, so prägen sie das Treffen ganz entscheidend, sind tatsächlich allgegenwärtig. Pandemie, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit werden zu Randaspekten degradiert. Die Angst davor, wohin die Eskalation der Worte führen wird, sie ist im Bayerischen Hof fast mit Händen zu greifen. „In Europa droht wieder ein Krieg“, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz. Er sei weiter bereit zu verhandeln, alle diplomatischen Mittel auszureizen, um die militärische Bedrohung abzuwenden. „Es geht schließlich um nichts Geringeres als um den Frieden in Europa“, sagt der Kanzler als er auf die Bühne tritt. Die Mienen im Saal sind ernst. Dem Kanzler ist wie allen Anwesenden bewusst: Über Wohl und Wehe wird nicht in München, nicht in Brüssel, noch nicht einmal in Washington entschieden. Der Ball liegt in Moskau. Und dort weiß man ganz genau, wie das Spiel funktioniert. Wie an einem Regler kann Putin den Blutdruck der Europäer und der Amerikaner nach oben oder nach unten schrauben, ganz wie es ihm gefällt.
Während die Weltenherrscherinnen und Weltenherrscher in München ihre Entschlossenheit mit Worten untermauern, mit Sanktionen drohen und mit bitterer Rache, handelt Putin. Er leitet an diesem Samstag eine Militärübung mit strategischen Nuklearwaffen. Ziel sei es, die Raketen auf ihre Zuverlässigkeit zu testen, heißt es. Auch deshalb könne der Präsident nicht nach München reisen. „Ohne das Staatsoberhaupt sind solche Starts nicht möglich. Sie wissen doch - der berühmte ,schwarze Koffer‘, der ,rote Knopf‘“, sagt Putins Sprecher Dmitri Peskow. Im Kreml hat man offenbar schwarzen Humor und spielt gerne mit den Ängsten seiner Gegenspieler: Schwarzer Koffer, roter Knopf - Vokabeln, die bewusst düstere Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges wach werden lassen. Der Westen ist unterdessen zu einem Selbstgespräch verdammt, ihm bleibt nicht viel mehr, als sich gegenseitig der maximalen Unterstützung zu versichern. Selbstverständlich ist die nicht. Lange schon kämpft die Europäische Union genauso wie die Nato um ihren Zusammenhalt, beide gelten als angezählt.
„Lassen Sie uns zusammenbleiben als Freunde und Alliierte“, mahnt Scholz eindringlich. „Wir haben schon genug damit zu tun, dass unsere Gegner versuchen, uns zu spalten.“ Man dürfe im Umgang mit Russland nicht naiv sein und müsse sich selbst klar werden darüber, wie weit man gehen will. Dabei müsse zwischen unhaltbaren Forderungen Russlands und legitimen Sicherheitsinteressen unterschieden werden. Doch genau da liegt die Krux: Das, was Moskau verlangt, ist für die Nato kaum zu erfüllen: Putin will eine Sicherheitsgarantie, dass die Ukraine niemals dem westlichen Militärbündnis beitreten wird – und was für die Ukraine gilt, dürfte für alle anderen ehemaligen Sowjetstaaten gleichermaßen gelten. Ein Anspruch, auf den sich die Nato kaum einlassen kann, ohne sich weiter selbst zu verzwergen. „Es geht um mehr als um die Ukraine“, sagt Jens Stoltenberg in München. „Es geht um die europäische Sicherheitsarchitektur.“ Das Bündnis habe sich immer als offen für Länder definiert, die sich einen Beitritt wünschen. An diesem Prinzip werde man auch künftig festhalten. Moskau brauche sich dadurch nicht bedrängt zu fühlen. „Die Nato ist ein defensives Bündnis, wir bedrohen Russland nicht“, versichert der Nato-Generalsekretär. Und auch Scholz stellt erneut klar: Ein Beitritt der Ukraine, stehe derzeit ohnehin überhaupt nicht zur Debatte. „Wir hoffen nach wie vor, dass der Frieden überleben wird“, sagt Stoltenberg. Doch wenn sich der Kreml entscheide, zuzuschlagen, dann werde das ernsthafte Folgen haben – das Pendel aus Drohung und Dialogangebot, es prägt diese Sicherheitskonferenz. „Es bleibt und ist eine gefährliche Situation“, sagt Scholz, „aber umso wichtiger ist es, dass wir das, was an Möglichkeiten existiert, nutzen.“
Präsident Selenskyj hält bei der Sicherheitskonferenz eine emotionale Rede
Doch reicht das wirklich aus? Zumindest von einem kommt an diesem Tag ein klares Nein. Trotz der Kriegsgefahr im eigenen Land reist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach München, um dem Westen den Spiegel vorzuhalten. Erkennbar angefasst ist der 44-Jährige, fast schon atemlos kritisiert er die Europäer. „Hat die Welt die Fehler des 21. Jahrhunderts komplett vergessen?“, fragt er. Wer sich nicht entschlossen genug positioniere, mache sich zum Komplizen. Es reiche nicht aus, Sanktionen für den Fall des russischen Einmarsches anzudrohen, die müssten schon jetzt greifen. Europa müsse den drohenden Krieg als seinen eigenen betrachten. Waffenlieferungen seien deshalb auch keine Spenden, sondern ein Beitrag für die eigene Sicherheit. „Wir werden hier vergessen“, sagt er. Und auch der Nato stellt er die Gretchenfrage: Will sie die Ukraine wirklich als Mitglied aufnehmen? „Wenn uns nicht alle da sehen wollen, seid ehrlich“, sagt er. „Wir brauchen ehrliche Antworten.“ Die Ukraine sei nicht bereit, auf Dauer als Puffer zwischen dem Westen und Russland zu dienen.
Wie sich die nächsten Tage entwickeln, bleibt die am schwierigsten zu beantwortende Frage selbst für Außenpolitik-Experten. „Jeder, der hier sich hinstellt und sagt, er könne das prognostizieren, wie es sein wird, der ist mit irgendeinem Hybrisvirus infiziert worden. Das sollte man nicht tun“, sagt der Bundeskanzler. Die Amerikaner sind weit weniger zurückhaltend. Längst gehen sie davon aus, dass Russland sich entschieden hat und künstlich einen Vorfall schaffen wird, der innerhalb der kommenden Tage als Rechtfertigung für einen Einmarsch in der Ukraine dienen soll. Das macht auch Kamala Harris, Vizepräsident der Vereinigten Staaten, in München noch einmal deutlich. Sie sieht ein regelrechtes Drehbuch, nach dem der Kreml handle: „Wir erhalten jetzt Berichte über offensichtliche Provokationen und wir sehen, wie Russland Falschinformationen, Lügen und Propaganda verbreitet.“ Davon geht auch der britische Premier Boris Johnson aus. Russland inszeniere „Operationen unter falscher Flagge“ und wolle ukrainischen Kräften die Schuld dafür zuzuschieben, um damit einen Vorwand für eine Invasion zu schaffen. Schon beim Besuch von Kanzler Scholz sprach Putin von einem Völkermord in der ukrainischen Konfliktzone, blickte in die Geschichtsbücher, um die eigene Haltung zu untermauern. Immer wieder verweist der Präsident auf die russische Minderheit in der Ukraine, die er beschützen müsse – ein Argument, mit dem quasi alle früheren Sowjetstaaten zurück in den Einflussbereich Moskaus gezwungen werden könnten.
Europa muss unabhängiger werden
Doch egal wie sich die Krise auch entwickeln wird, für Europa ist sie schon jetzt Mahnung und Handlungsauftrag in einem. Dass aktuell 40 Prozent des Gases aus Russland stammt, schafft eine massive Energie-Abhängigkeit. Dass die Nato ihre Mitgliedsstaaten dazu anhalten muss, mehr in die Verteidigung zu investieren, wird zur Belastung. Zwar sind Olaf Scholz an diesem Wochenende in München keine Versprechen zu entlocken – immerhin war es auch die SPD, die sich stets gegen höhere Ausgaben in diesem Bereich stemmte. Eines freilich ist auch ihm klar: "Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen können, Soldatinnen und Soldaten, die optimal ausgerüstet sind für ihre gefährlichen Aufgaben - das muss ein Land unserer Größe, das besondere Verantwortung trägt in Europa, leisten können".