Dass für Olaf Scholz der alte Schlager „Wunder gibt es immer wieder“ gilt, dürfte auf dem G20-Gipfel in Brasilien kaum jemand unter den hochkarätigen Politikern und Politikerinnen glauben. 2021 schaffte es der SPD-Mann nach einer sensationellen Aufholjagd ins Kanzleramt, doch eine Wiederholung dieser Erfolgsgeschichte bei der Bundestagswahl im Februar scheint nach dem derzeitigen Stand der Dinge nahezu ausgeschlossen – sogar in seiner eigenen Partei mehren sich aktuell die Stimmen, die gerne den in der Bevölkerung beliebteren Parteikollegen, Verteidigungsminister Boris Pistorius, als Kanzlerkandidat sehen würden. Kurz: Es deutet viel darauf hin, dass die zweitägige Reise zur Konferenz in Rio de Janeiro für Scholz einer Abschiedstour von der internationalen politischen Bühne gleichkommt.
Dem Kanzler dürfte es gerade deshalb darum gehen, trotz der widrigen Umstände auf dem Gipfel Akzente zu setzen. Denn immerhin ist er nach wie vor fest entschlossen, die SPD als Spitzenkandidat in den Wahlkampf zu führen.
Unglückliches Timing: Scholz-Interview in einer brasilianischen Zeitung
Vor dem G20-Gipfel versicherte Scholz in einem Interview mit der brasilianischen Zeitung Folha de Sao Paulo die Bereitschaft Deutschlands, die Ukraine so lange wie nötig in ihrem Abwehrkampf gegen Russland zu unterstützen. „Putin muss klar werden, dass ein Spiel auf Zeit nicht funktionieren wird.“ Gleichzeitig warb er erneut für eine Friedenskonferenz unter Teilnahme Russlands. Zuvor hatte ein Telefonat des Kanzlers mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vom vergangenen Freitag nicht nur beim ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj für Verstimmung gesorgt. Aus Kiew kam der offensichtlich auf Scholz gemünzte Vorwurf, dass man „Frieden durch Stärke“ nicht durch „Appeasement“ erreichen werde.
Unglücklich ist für den deutschen Regierungschef, dass das Interview bereits veröffentlicht war, als Medienberichte bekannt wurden, dass US-Präsident Joe Biden der Ukraine den Einsatz weitreichender Raketen gegen bestimmte Ziele in Russland erlaubt hat. Scholz lehnt die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern in die Ukraine bisher ab.
Gastgeber Lula da Silva wollte den Ukraine-Krieg nicht als offizielles Thema
Der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva hat erfolgreich verhindert, dass der Ukraine-Krieg offizielles Gipfel-Thema wird. Kein Zufall, dass Selenskyj für das Treffen keine Einladung erhalten hat. Da gegen Putin ein internationaler Haftbefehl durch den Internationalen Strafgerichtshof vorliegt, wird Russland durch Außenminister Sergei Lawrow vertreten. Als sicher gilt aber, dass der Krieg in Europa angesichts der schwersten russischen Luftangriffe seit Kriegsbeginn nicht aus den Gipfelgesprächen herausgehalten werden kann.
Dennoch wird Lula da Silva alles daransetzen, seine Agenda in den Vordergrund zu rücken. Der Gastgeber will Brasilien noch stärker als Sprachrohr des Globalen Südens und der Schwellenländer in Position bringen. Gesetzt als ein zentrales Thema ist der Kampf gegen den weltweiten Hunger. Lula möchte in Rio eine „Globale Allianz gegen Hunger und Armut“ auf den Weg bringen. Ziel ist es, Initiativen zur Steigerung der Lebensmittelproduktion und zur Bekämpfung von Hunger voranzutreiben.
Streitpunkt Besteurung von Superreichen
Ein weiterer Kernpunkt wird eine gemeinsame Erklärung der G20-Finanzminister vom Juli sein, in der eine wirksame Besteuerung der Superreichen gefordert wird. Doch dieses Vorhaben spaltet die Staaten. Während etwa Frankreich, Spanien und Südafrika ihre Unterstützung zum Ausdruck brachten, sind die USA dagegen. Für den designierten Nachfolger von Joe Biden als US-Präsident, Donald Trump, ist eine solche Besteuerung ohnehin Teufelszeug. Es ist also fraglich, ob es ein Passus zur Vermögenssteuer in die Abschlusserklärung schaffen wird. Das wäre ein Dämpfer für Lula, da die in der Regel gemeinsamen Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs bei G20-Konferenzen zwar rechtlich nicht bindend sind, politisch aber eine starke Signalwirkung haben.
Ähnlich hohen Stellenwert dürfte das Thema Klimaschutz in Rio haben. Eine der drei Arbeitssitzungen ist der nachhaltigen Entwicklung und Energiewende gewidmet. Lula hofft, dass bei seinem Heimspiel von den G20-Mitgliedern ein Signal ausgehen wird – auch für weitere Verhandlungen bei der parallel laufenden Weltklimakonferenz im aserbaidschanischen Baku, bei der die Gespräche bislang äußerst zäh laufen. Mit Biden und wohl auch Scholz verlieren die besonders stark von der Klimakrise betroffenen Länder des Globalen Südens wichtige Mitstreiter Trump will verstärkt Öl und Gas fördern und auch in Deutschland bläst den Verfechtern eines stärkeren Engagements gegen die Klimaerwärmung der Wind ins Gesicht. (mit dpa)
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