Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gehörte zu den letzten, die an diesem denkwürdigen Abend über den roten Teppich des Brüsseler Ratsgebäudes schritten, wo schon so viele Gipfelnächte zuvor die Bezeichnung „historisch“ verliehen bekamen. Die Stimmung dürfte dennoch selten so gedrückt gewesen sein wie zu Beginn des EU-Sondergipfels. Es herrscht Krieg in Europa. Der polnische Premier brachte die Gemütslage am deutlichsten zum Ausdruck: „Zivilisten werden gerade getötet – jede Minute, jede Stunde“, sagte Mateusz Morawiecki und forderte: „Schluss mit dem billigen Gerede.“
Man müsse handeln, „stark und geschlossen“. Russland hatte am frühen Morgen die Ukraine angegriffen – und die europäische Staatengemeinschaft wollte zügig mit Sanktionen reagieren, die für Russland „massive und schwerwiegende Folgen“ haben, wie es Kommissionschefin Ursula von der Leyen nannte. Die Maßnahmen seien so konzipiert, dass sie die Interessen des Kremls und seine Fähigkeit, einen Krieg zu finanzieren, träfen. Nach Beratungen, die nicht einmal zwei Stunden andauerten, stimmten die 27 Staats- und Regierungschef am späten Abend dem Paket zu.
Die Sanktionen gegen Russland sollten „massiv“ und „schwerwiegend“ sein
Die Beschreibungen „massiv“ und „schwerwiegend“ sollten im Zusammenhang mit den Sanktionen in Diplomaten- und Politikerkreisen häufiger fallen. So wurde es zumindest angedroht, bis am Abend klar wurde, dass die EU nicht alle Möglichkeiten ausreizen wollte. Noch. Laut Kanzler Scholz sei es „im Hinblick auf Geschlossenheit und Entschlossenheit“ wichtig, dass man nun die Maßnahmen, die die Europäer in den letzten Wochen vorbereitet hätten, beschließe und „wir uns alles andere aufbehalten für eine Situation, wo das notwendig ist, auch noch andere Dinge zu tun“. Wie diese Situation aussehen könnte, ließ der Deutsche offen. Baltische Mitgliedstaaten hatten offenbar gefordert, noch weiterzugehen.
Seit Wochen lag das Paket bis ins letzte Detail geplant in den Schubladen der EU-Kommission. Nun wird es zumindest in großen Teilen aufgeschnürt. Die Maßnahmen zielen auf strategische Bereiche der russischen Wirtschaft, um den Zugang zu für Russland wichtigen Technologien und Märkten zu blockieren. Dazu gehört beispielsweise ein Exportstopp für Hightech-Produkte und Software aus der EU. „Wir werden Russlands wirtschaftliche Grundlage und seine Fähigkeit zur Modernisierung schwächen", so von der Leyen. Eine Verständigung im Kreise der 27 gab es auch beim Thema Visapolitik.
Hier soll es weitere Einschränkungen geben, etwa für Geschäftsleute. Während die EU im Transportbereich insbesondere die russische Luftverkehrsbranche von der Versorgung mit Ersatzteilen und anderer Technik abschneiden will, soll es im Finanzsektor darum gehen, russische Banken von den Finanzmärkten in Europa auszuschließen.
So sollen sich die Institute in der EU künftig kein Geld mehr ausleihen und auch kein Geld mehr verleihen können. Außerdem sehen die Pläne vor, dass Aktien von russischen Staatsunternehmen nicht mehr in der Union gehandelt werden können. Ebenso werden weitere russische Vermögenswerte in der EU eingefroren. Und auch gegen den Energiesektor will die Gemeinschaft mit Sanktionen vorgehen. Aus Diplomatenkreisen hieß es, dass von den 27 Mitgliedstaaten vorneweg Deutschland und dann Italien am schwersten von den Maßnahmen gegen Moskau getroffen würden.
Russland soll vorerst nicht aus dem Swift-Netzwerk ausgeschlossen werden
Dabei wird immer noch über die Frage spekuliert, ob die EU bis zum Äußersten gehen wird. Doch Russland wurde bislang nicht aus dem weltweiten Zahlungssystem Swift ausgeschlossen. Lange dauerte es auch, bis am Freitagmittag klar wurde, dass Wladimir Putin und Sergej Lawrow auf der Sanktionsliste der EU stehen werden. Das bedeutet, dass Vermögenswerte in der Europäischen Union eingefroren werden. Außerdem dürfen sie nicht mehr in die EU einreisen.
Doch man wolle nicht „die Vorder- und die Hintertür zuschlagen“ für eventuelle diplomatische Lösungen in der Zukunft. Gleichwohl brauche es für eine mögliche dritte Strafrunde noch wirksame Mittel in der Hinterhand. Mindestens genauso schwer dürfte die Tatsache wiegen, dass der Westen mit einem Ausschluss Russlands aus dem Swift-System der eigenen Wirtschaft großen Schaden zufügen würde.
In der dunkelsten Stunde Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich am Mittag bereits die drei Spitzen von EU und Nato gemeinsam vor der Presse versammelt, sie wirkten zutiefst erschüttert – und aktivierten den Krisenmodus. „Wir haben einen Krieg in Europa von einem Ausmaß und einer Art, von der wir dachten, sie gehöre der Vergangenheit an“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Die Invasion Russlands in die Ukraine nannte er einen „brutalen kriegerischen Akt“ und „eine vorsätzliche, kaltblütige und von langer Hand geplante Invasion“.
EU: Präsident Wladimir Putin dafür zur Rechenschaft ziehen
Von der Leyen wie auch Ratspräsident Charles Michel verurteilten das Vorgehen des Kremls ebenfalls scharf. „Die Welt kann sehen, dass Einheit unsere Stärke ist“, sagte von der Leyen. Es handele sich um „unsere gemeinsame Pflicht, dem schwersten Angriffsakt auf europäischem Boden seit Jahrzehnten standzuhalten.“ Auf dem Spiel stehe nicht nur die Ukraine, sondern „die Stabilität Europas und die gesamte internationale Friedensordnung“.
Man werde Präsident Wladimir Putin dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Frage lautete: Wie? Laut Stoltenberg gebe es keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu entsenden. Stattdessen hat das Militärbündnis erstmals in der Geschichte der Allianz seine Verteidigungspläne in Osteuropa aktiviert, um eine schnelle Truppenbewegung zu ermöglichen.
Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Ukraine-Konflikt.