Die Menschen drücken, die Menschen zücken ihre Mobiltelefone, sie rufen, jeder so laut er kann. Auf die wummernde Musik zu den bunt strahlenden Wasserspielen im Springbrunnen nebenan achtet niemand so sonderlich. Wie auch, alle wollen nur ihn sehen. Ihn anstrahlen und anfassen: ihren starken Mann, ihren Führer. "Leader", nennen viele Russinnen und Russen ihren Präsidenten. "Mach ein Foto, Mama", schreit eine Jugendliche. "Mach doch." Die Mama macht. Putin gibt einem Mädchen einen Kuss auf den Kopf, legt den Arm um sie und lässt sich mit ihr fotografieren.
Dass der Kremlchef sich in eine Menschenmenge begibt, ist äußerst selten – in Moskau hält Putin selbst bei politischen Treffen meist Abstand. Das Mädchen, Fatima, erzählt dem Staatsfernseh-Reporter derweil, wie sie sieben Stunden lang in der Stadt Derbent, Dagestan, gewartet hat. "Nur auf ein Foto mit ihm."
Putin ist derzeit fast täglich auf Sendung
Putin unterstützt vom Volk, das ihm zujubelt und ihn feiert. War da was? Risse im System? Gesichtsverlust? Der Kreml tut in den Tagen nach der Kurzzeit-Revolte des Söldner-Chefs Jewgeni Prigoschin alles, um die Schwäche des Präsidenten in ein Bild der Stärke umzuwandeln.
Seit vergangenem Samstag, als Prigoschin mit seinen Panzern und Tausenden von Kämpfern das Zentrum der südrussischen Stadt Rostow am Don besetzte und das "Mistvieh" Sergej Schojgu, wie er den russischen Verteidigungsminister seit Monaten beschimpft, herausforderte, ist Putin täglich auf Sendung. Er hält Reden, er dankt Soldaten und dem "ganzen Volk in Einheit", er lässt sich in den Nordkaukasus fliegen und im Menschenbad filmen, er zeigt sich auf einem Forum in Moskau, er trifft sich mit dem Sicherheitsrat.
Putin will zeigen, dass er alles im Griff hat
Die Kameras des Staatsfernsehens sind stets dabei. Sie sollen die Gewissheit einfangen: Der Präsident habe es im Griff, alles ist wieder gut. Das funktioniert schnell. In den Tagen nach den politischen Turbulenzen geht das Leben in der Hauptstadt seinen gewohnten Gang, so wie es das seit Kriegsbeginn geht. Die meisten Menschen nehmen die Nachrichten als Nachrichten hin und gewöhnen sich daran. Manche stöhnen: "Ich bin einfach nur müde, ich will das alles nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Es betrifft mich nicht." Zurück bleibt oft die Verwunderung: "Aber warum mag uns die Welt denn nicht? Was haben wir den Leuten getan?"
Im Moskauer Gorki-Park herrscht unter der Woche Ruhe. Familien sind unterwegs, die Musik spielt, ein paar Jugendliche rasen mit ihren E-Rollern über die breiten Wege. Die Karussells drehen ihre Runden, die Enten schwimmen in den Teichen. Es gibt Eis und Mais. "Wir leben einfach im Moment, genießen das Leben", sagt Jekaterina, sie sitzt auf einer Bank, hält einen Kaffeebecher in der Hand. Hochzeitsfotografin ist sie, hat am Tag, als Prigoschin die Waffen gegen die eigenen Landsleute richtete, den ganzen Tag in einem Hotel ein Brautpaar und dessen Gäste fotografiert. In Rostow schrieb sich ihre Tante die Finger wund, "sie wollte uns in Moskau beruhigen, und ich hatte eh keine Zeit, mich mit all der Politik zu beschäftigen, ist nicht meins, ich verstehe einfach nichts davon". Jekaterina sagt, es sei nicht an ihr, "zu urteilen, wer Recht" habe. "Wir müssen immer aufseiten unseres Präsidenten sein. Einfach, weil wir Russen sind und Putin unser Präsident ist." Sie ist 25 Jahre alt, einen anderen Menschen an der Spitze des Staates kennt sie nicht, auch wenn zwischendurch Dmitri Medwedew den Posten innehatte, im Hintergrund blieb Putin stets der, der den Russinnen und Russen Stabilität versprach. Wie fragil aber das System ist, führte Prigoschin in nur wenigen Stunden vor. "Wir sind nur Beobachter der Situation, wir sind keine Akteure", sagt Jekaterina auf der Gorki-Park-Bank. Sieht sie keine Gefahren für ihr Land? Ihr Leben gar? "Naja, die paar Panzer! Was haben die mit mir zu tun?"
Prigoschin wird als Verräter beschrieben
Es ist eine gängige Haltung vieler Menschen im Land. Politische Teilhabe wünscht sich die Mehrheit nicht. "Es hat mich wirklich genervt, dass ich am Samstag aus dem Puschkin-Museum hinausgebeten wurde. Was sollte das? Rostow ist weit weg. Wir wollen in Ruhe gelassen werden", sagt Tatjana, 48. Als die Lage in Rostow immer brenzliger geworden war, ließ der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Museen und Parks der Stadt schließen, führte einen arbeitsfreien Tag ein. "Eine Notsituation", sagte er und bat um "Verständnis". Für Tatjana sei das "Außergewöhnliche des Ganzen" bis heute nicht klar, sagt sie, die Ausflugsschiffe auf der Moskwa ziehen an ihr vorbei.
Eine Stadtführerin führt eine Besuchergruppe zum Denkmal des sowjetischen Dichters Maxim Gorki, nach dem der Park gegenüber dem russischen Verteidigungsministerium benannt ist, sie liest den Frauen, Männern und Kindern ein Märchen von Gorki vor. Darin prahlen ein Teekessel und ein Samowar um die Wette, wollen vor der Zuckerdose zeigen, wer mehr zu sagen, mehr zu bieten hat. Am Ende platzen beide. "Sie haben verloren, jeder auf seine Weise", sagt die Stadtführerin. Auf eine absurde Weise passt die Erzählung in die russischen Fast-Staatsstreich-Tage.
Im Fernsehen sprechen die Moderatoren von Prigoschin inzwischen von einem geldgierigen, von dummen Ambitionen getriebenen Mann, der seine Kameraden belogen habe. Wer ihn so groß gemacht hat und über Jahre hinweg gewähren ließ, ist kein Thema. Dass der Kreml hart gegen die Sympathisanten des Aufstandes vorgeht, ist offiziell kein Thema. Es gilt, ein Bild der Normalität zu zeichnen. Außenminister Sergej Lawrow ist sich sicher: "Russland ist aus allen möglichen Schlamasseln – und man kann dies schwer mehr als einen Schlamassel nennen – stärker und stabiler herausgekommen."