Sie tauchen in der Nacht auf, räumen im Schutze der Polizei Blumen und Kerzen weg, schänden das, was Tausende von Menschen – voller Tränen die einen, in aller Stille die anderen – hier abgelegt haben, weil sie trauern: um den in Haft hinter dem Polarkreis umgekommenen Putin-Gegner Alexej Nawalny. Ihr Idol. Dafür, dass der 47-Jährige in einem Land Politik möglich machte, in dem Politik unmöglich gemacht wurde, hat er mit dem Leben bezahlt.
Die Blumen aber sind auch am nächsten Tag wieder da. Frische Nelken und Rosen, rote, weiße, gelbe, mit schwarzem Band oder kleinen Nachrichten versehen. Sie liegen in Moskau und Sankt Petersburg, in Nowosibirsk und Samara, in Tscheljabinsk und Tomsk und Ulan-Ude. Sie liegen da, obwohl die Polizei die Menschen wegscheucht, obwohl sie in ihre Megafone schreit: „Weitergehen!“ Obwohl sie manche Frauen und Männer teils brutal an Armen und Beinen packt und in die am Straßenrand abgestellten Polizeitransporter wirft.
Hunderte trauernde Menschen wurden bereits festgenommen
Mehr als 400 Menschen sollen bei Blumenniederlegungen quer durch Russland am Wochenende festgenommen worden sein, meldete die russische Menschenrechtsorganisation OWD-Info. Manche von ihnen erhielten bereits ihr Urteil: 15 Tage Arrest.
Am Solowezki-Stein in Moskau hat jemand mit blauem Edding auf ein kariertes Blatt Papier „Habt keine Angst“ geschrieben und neben das Blumenmeer gelegt. Gegenüber des Findlings, der an die Opfer des Stalinismus erinnert, steht die mächtige Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB. Früher, als der Dienst noch Tscheka und später KGB hieß, fällten die Henker hier die Urteile, die Millionen von Menschen im Gulag – angefangen von den Solowezki-Inseln im Weißen Meer – das Leben nahm, selbst wenn sie überlebten.
Bestrafung und Zerstörung hat sich in Russland bis heute nichts geändert
Am menschenfressenden, staatlich gezüchteten Monster aus Isolation, Bestrafung und Zerstörung hat sich in Russland bis heute nichts geändert. Auch die Strafkolonie von Charp, in der Nawalny verendete – am „Syndrom des plötzlichen Todes“, wie die Strafvollzugsbeamten Nawalnys Mutter und seinem Anwalt allen Ernstes in der Regionalhauptstadt Salechard in Nordwestsibirien mitteilten – geht auf die Zeit des Gulag zurück.
„Ich will ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen“, sagt eine ältere Frau mit buntem Schal am Solowezki-Stein. Der Menschenstrom, den die Polizei durch eine Unterführung leitet und dabei jeden filmt, hört nicht auf. Die Frauen und Männer, jung, alt, mittelalt, selbst Familien kommen, stapfen durch den matschigen Schnee, strecken sich, um ihre Blumen auf dem Blumenberg am Findling abzulegen, versuchen, kurz innezuhalten. „Junge Frau, weitergehen, nicht stehen bleiben“, brüllt ein Polizist ins Megafon. „Machen Sie den Weg frei“, schreit ein anderer und weist ein älteres Paar vom Stein.
Man weiß nicht einmal sicher, wo der Leichnam Nawalnys ist
Es war Nawalny, der den Menschen zeigte, was Politik ausmacht. Der sie spüren ließ, was einen Menschen zu einem Bürger macht. Er verlor diesen Kampf gegen einen Staat, der selbst mit seiner Leiche ein Katz-und-Maus-Spiel veranstaltet. Bislang soll es keine Obduktion gegeben haben, die Leiche soll, so meldet die russischsprachige Zeitung Nowaja Gaseta Europe, im Regionalkrankenhaus von Salechard liegen. Sicher ist das nicht. Ein Zeuge in der Klinik habe ausgesagt, die Leiche weise blaue Flecken auf, die bei Krämpfen entstehen könnten. Nawalny sei offenbar am Herzstillstand gestorben. Warum sein Herz aufhörte, zu schlagen, sei unklar. Offizielle Stellen äußerten sich bislang nicht zum Verbleib der Leiche.
„Alexej war einer der wichtigsten Menschen, der mir geholfen hat, zu glauben, dass Politik nicht der langweilige, graue, klebrige Scheiß ist, mit dem diese Anzüge im Fernsehen vollgestopft sind, sondern buchstäblich mein Leben“, schreibt eine, die Russland nach dem Überfall auf die Ukraine verlassen hatte, auf ihrem Telegram-Kanal. Ein anderer, noch in Moskau, meint: „Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken. 100.000 Menschen müssten es wenigstens sein.“ Doch selbst dabei mitmachen? „Nee, zu gefährlich.“
Es gibt keine Opposition in Russland
Die Widerstandskämpfer, sie sind zu Hunderttausenden ins Exil gegangen. Immer repressivere Gesetze nehmen den im Land Gebliebenen die Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken. Es gibt kein Ventil, keine Partei, die eine Alternative sein darf. Es gibt keine Opposition.
Die parlamentarischen Pseudo-Oppositionellen nicken alles ab, ducken sich, sind Teil des Regimes. Eines Staates, der seine ganze Macht einsetzt, um Kritiker verstummen zu lassen. Wie weit dieser zu gehen bereit ist, zeigte die politische Verfolgung Nawalnys. Das zeigt auch sein Tod, der nicht einfach ein Tod ist, sondern ein politischer Mord.
„Nicht einmal trauern lässt man uns in Ruhe. Schau, in Amsterdam können die Menschen zusammenstehen und zusammen weinen. Und wir? Uns scheucht der Typ da mit seinem Schlagstock weg. Und wir gehen weg, natürlich“, sagt ein älterer Mann am Solowezki-Stein zu einer Frau. Zwei jüngere Freundinnen, die nach dem Blumenniederlegen am Museum nebenan stehen bleiben und auf den Findling in der Ferne schauen, meinen: „Widerstand? Ohne Nawalny? Wer soll es machen? Wir haben alle nicht den Mut dafür.“
Julia Nawalnaja bewegte in München die Welt
Ob ihn seine Witwe Julia Nawalnaja hätte, die bei der Münchner Sicherheitskonferenz die Welt bewegte? Oder Tochter Darja Nawalnaja? Sie haben seine Ideen, vor allem nach Nawalnys Vergiftung und während seiner Haft in die Welt getragen, haben sich mit allem, was sie konnten, für seine Freilassung eingesetzt.
Der Auftritt von Julia Nawalnaja in München, unmittelbar nach der Mitteilung der russischen Behörden vom Tod ihres Mannes, war beklemmend wie beeindruckend zugleich. Die einstige Bankerin wird für die Aufklärung seines Todes kämpfen, wie sie stets gekämpft hat. Die Frage aber, ob sie das politische Erbe von Alexej Nawalny tatsächlich übernehmen kann und wird, ist völlig offen.