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Russland: Sondersiedlung Nummer drei: Geschichte einer russlanddeutschen Familie

Russland

Sondersiedlung Nummer drei: Geschichte einer russlanddeutschen Familie

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    Frieda ist die russlanddeutsche Großmutter von Inna Hartwich. An ihrer Geschichte schildert sie das Schweigen und Verdrängen, das für die russische Gesellschaft bis heute typisch ist.
    Frieda ist die russlanddeutsche Großmutter von Inna Hartwich. An ihrer Geschichte schildert sie das Schweigen und Verdrängen, das für die russische Gesellschaft bis heute typisch ist. Foto: Inna Hartwich

    Die Wortschöpfung Spezposjolok nomer tri, Sondersiedlung Nummer drei also, zieht sich wie ein geheimnisvoller Schreckenszauber durch unsere Familie. Jedes Mal, wenn jemand das Wort ausspricht, umweht es eine seltsam geartete Sehnsucht, die Schaudern hervorruft und zugleich etwas Anheimelndes hat. Mein Vater sagte stets, er sei in Sibirien geboren. „Sibirien“ wurde zu einem Synonym des Schreckens für die Verschleppten und Geschundenen. „Mein größter Kindheitstraum war es, einfach nur weg zu sein aus dem Lager, nach Deutschland zu fliegen“, erinnert sich mein Vater. Bereits als Kind imaginierte er sein Deutschland.

    Bereits als Kind stelle ich Fragen zu diesem seltsam klingenden Geburtsort meines Vaters. Die Verwandten bleiben stumm. Als Jugendliche verschicke ich Tabellen an meine Tanten und Onkel, will Daten aus ihrem Leben dokumentieren. Zurück kommen vor allem Fragen. „Was willst du damit?“, „Wer hat dir den Auftrag gegeben?“, „An wen meldest du das zurück?“ Fragen, aus denen eine tief sitzende Angst spricht. In Russland werden sie bis heute gestellt, wenn jemand plötzlich vermeintlich Feststehendes hinterfragt oder etwas gestalten will, vor allem politisch. Im Geheimdienst-Denken des heutigen politischen Systems im Land gibt es immer irgendeinen „Auftraggeber“. Der Mensch an sich ist kein Subjekt, er ist in den Augen des Staates lediglich ein Auftragserfüller. 

    Wjatka galt schon seit der Zarenzeit als Ort der Verbannung

    An einem Montag im Juni 2023 stehe ich an der Wjatka, dem Fluss, der ruhig durch den russischen Norden mäandert. Es ist kühl hier, zwei Jugendliche werfen Steine ins Wasser. Die Wjatka gab der Stadt, durch sie bis heute fließt, einst ihren Namen, seit 1934 heißt diese Kirow. Kaufmänner aus Polen siedelten sich hier an, sie bauten auf den Hügeln zweigeschossige Häuser, eröffneten Konditoreien, handelten mit Roggen, Leinen und Leder. Viele aber kamen nicht freiwillig hierher. Wjatka galt bereits zu Zarenzeiten als Verbannungsort, weit weg von Moskau und Sankt Petersburg. Der russische Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin, 1848 nach Wjatka verbannt, schrieb: „Sobald man in diese Stadt kommt, hat man das Gefühl, dass man vom Leben nichts mehr verlangen kann.“ Für ihn schien Wjatka „das Ende der Welt“. 

    Hinter dem Fluss nur Wälder. Dort, irgendwo im Nirgendwo, soll sie liegen, die „Sondersiedlung Nummer drei“, ein Ort der Vergessenen. Des Vergessens. „Es gibt nicht einmal eine Straße, die aus dieser Stadt irgendwohin führt“, heißt es bei Saltykow-Schtschedrin. Aus Kirow führen mittlerweile viele Straßen irgendwohin, quer durch die Laubwälder. Nikolai, ein ehemaliger Polizist, hat sich bereit erklärt, mich in die unbekannten Weiten der Region Kirow zu bringen, auch ihn, der hier sein Leben verbringt, hat es noch nie in diese Gegenden verschlagen. „Wir machen das, solang das Auto die Wege passieren kann“, sagt er und gibt Gas. Es wird ein Hoppeln über die Sandpisten der Taiga. 

    Sondersiedlung für die „politisch unzuverlässigen Elemente“

    In der Region Kirow hat es sechs Sondersiedlungen gegeben. Alle etwa 1930 gegründet, als das Stalin-Regime anfing, die „politisch unzuverlässigen Elemente“ auszusortieren. Zunächst traf es die Bauern, meist aus den umliegenden Regionen. Die Bolschewiki verschleppten sie als wohlhabende Klassenfeinde im Rahmen ihrer Entkulakisierungskampagne in Arbeitslager, wo sie Holz fällen mussten oder in Eisengruben schufteten. Sie arbeiteten unter ständiger Kontrolle – bis die nächsten „Volksfeinde“ kamen, die Balten erst, später die Ukrainer. Ab 1948 kamen die Deutschen hinter die Wjatka, wegen ihrer „feindseligen Tätigkeiten und antisowjetischen Verbindungen“, wie es im Dokument zur Organisation der Arbeit von Verbannten hieß. Auch Frieda und Richard kamen 1948, ihr jüngstes Kind war damals vier. 

    Als vorläufiges Endziel hat sich Nikolai den Ort mit dem wunderbaren Namen Sinegorje gesetzt, „Blauberge“. Die Menschen hier leben vom Angeln und von der Landwirtschaft. Manche arbeiten in der Holzverarbeitung und viele in der Verwaltung. Gemeldet sind hier knapp 1000 Einwohner, längst wohnen nicht alle im Ort. Die Schule, ganz in Pastellgelb, ist ein Anziehungspunkt, es ist Sommerlager-Zeit. Das Wort „Lager“ hat längst die Bedeutung von Unterhaltung angenommen. In den 1990ern hatte es ein russisches Filmteam hinter die „blauen Berge“ geschafft, die Filmer hatten einen Tisch im Dorf decken lassen, und die Alten erzählten. Es sind ihre Erinnerungen an die Anfänge der Sondersiedlung Nummer drei, ein Zeugnis von politischen Verbrechen, in grobkörnigen Bildern. „Eines Abends, da war ich noch gar kein Schulkind, sah ich im Fernsehen einen Film, vor dem sich meine ganze Familie versammelte“, wird ein Neuntklässler der Schule von Sinegorje im Jahr 2004 schreiben. „Die Erwachsenen saßen ganz still da, und Großvater weinte. Ich verstand das damals nicht und nervte die Erwachsenen mit Fragen. Warum hat Großvater geweint? Du bist noch klein, sagten sie, geh spielen.“ Dieser Pjotr Zissar aber fing einige Jahre später an nachzuforschen, schrieb über seinen Großvater, seine Großmutter, die verbannten Ukrainer, die verbannten Deutschen aus der Sondersiedlung Nummer drei. Es entstand eine Arbeit, die es heute schwer hätte, bei der Lehrerin eingereicht zu werden, gerade, weil sie politisch motivierte Gewalt anprangert. Die Geschichte der Sowjetunion wird als Heldenepos erzählt. Die Verbrechen werden als eine Art Naturphänomen erwähnt, das wie von außen übers Land gezogen ist. 

    Inna Hartwich berichtet für unsere Redaktion aus Russland.
    Inna Hartwich berichtet für unsere Redaktion aus Russland. Foto: Inna Hartwich

    Die Schuldirektorin Tatjana Kulikowa reicht mir diese Arbeit, lesen kann sie sie nicht, zu schmerzhaft ist das Geschriebene. Die untersetzte Frau leitet seit mehr als 20 Jahren die Schule. „Ich bin mit Putin gekommen, ich werde auch mit Putin gehen“, sagt sie. Hier in Sinegorje hatte sie einst ihren Mann kennengelernt. „Ein Ukrainer, wie so viele hier. Der Grund der Verbannung? Es gibt keinen. Weil sie Ukrainer waren. Weil sie dem Staat als unpassend erschienen. Weil ...“ Es wird still in der gefliesten Eingangshalle der hellhörigen Schule. Jeder, der hier arbeitet, weiß über die Verbannung seiner Vorfahren zu erzählen. Die Garderobenfrau, die Köchin, die Grundschullehrerin. „Was jetzt passiert ...“, sie drehen sich um, niemand soll ihre Tränen sehen. „Unser Herz ist hier, aber unsere Seele ist dort, in der Ukraine“, sagt Tatjana Kulikowa. 

    Die Sondersiedlungen sind heute nur noch Geisterdörfer

    Vor dem Schulhaus steht ein Mahnmal für den Zweiten Weltkrieg. „Leute! Denkt daran, welcher Preis fürs Glück gezahlt worden ist.“ Welchen Preis zahlten die Verbannten? Die Großeltern des Nicht-mehr-Neuntklässlers Pjotr Zissar? Die Schwiegereltern der Schuldirektorin Tatjana Kulikowa? Meine Großeltern Frieda und Richard und die 14 Kinder ihrer Patchworkfamilie? 

    Die Sondersiedlung Nummer drei liegt nicht in Sibirien. Sie liegt fast in Komi, im äußersten Nordosten Europas. Es ist ein Sackgassendorf, hinter der Siedlung ist nur noch Natur, kein Mensch lebt mehr hier. Auf der Karte Russlands hat die Siedlung einen offiziellen Namen: Mytjez, wie auch die anderen einstigen Sondersiedlungen in der Region Kirow nun Namen tragen: Tschernigowski, Labasninski, Sos, Gnilowka, Tscherjomuschka. Die meisten von ihnen sind Geisterdörfer.

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