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Russland: Der Wagner-Aufstand: Des russischen Dramas erster Teil

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin (rechts) macht ein Selfie mit einem Zivilisten in Rostow am Don.
Russland

Der Wagner-Aufstand: Des russischen Dramas erster Teil

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    Daniil Charms, der Nonsens-Dichter der Sowjetunion, hatte 1934 ein Stück geschrieben, das so kafkaesk war, wie er es mochte und wie das damalige stalinistische Regime es hasste, weswegen es Charms politisch verfolgte. "Erfolglose Aufführung“ hatte der virtuose Wortspieler es genannt. Darin treten immer wieder Menschen auf die Bühne, die zu erbrechen anfangen. Am Ende steht ein kleines Mädchen da und sagt: "Papa hat mich gebeten, euch mitzuteilen, dass es vorbei ist mit dem Theater. Uns allen ist speiübel.“ Der Vorhang fällt.

    Das Stück lässt sich erstaunlich gut in die Realität Russlands im Juni 2023 übertragen. 24 Stunden lang hält ein fluchender wie bewaffneter Barbar samt seiner zehntausendfacher Paramilitär-Truppe eine Stadt besetzt und damit die Welt in Atem. Er lässt Panzer auffahren und droht einen Marsch auf die Machtzentrale in Moskau an. Die Führung in der Stadt ergibt sich ihm wort- und tatenlos, die Menschen stehen am Bahnhof und wollen in Massen weg. Der Präsident schimpft, ordnet an, den "Verräter“ zu vernichten. Die Angst vor einem Blutbad macht die russische Führung so nervös, dass sie Straßen aufgraben lässt und arbeitsfreie Tage ausruft. Die Menschen in der Hauptstadt flanieren derweil am Fluss entlang und beklagen sich darüber, dass längst geplante Veranstaltungen ausfallen.

    Am Abend dann die überraschende Wende: Der Barbar zieht unter Jubel der Umstehenden ab, seine Mannen verlassen die Orte. Alle gehen straffrei aus. Vorhang zu, Theater zu Ende. Das Grauen bleibt. Und der Zar steht fast nackt da.

    Wagner-Aufstand: Wagner-Chef Prigoschin hat Putin demaskiert

    Jewgeni Prigoschin, einst als "Putins Koch“ zu Geld gekommener und im Ukraine-Krieg als durchaus erfolgreicher Feldherr seiner berüchtigten Wagner-Gruppe bekannt gewordener Unternehmer, hatte seine Waffen gegen die eigene Seite gerichtet – und in kurzer Zeit den Mann demaskiert, der ihn erst groß gemacht hat: den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Lange hatte Putin Prigoschin gewähren lassen, hat diesen über die Militärführung in bester Gossensprache schimpfen lassen, ihn die Grenzen des Sagbaren so weit ausdehnen lassen – bis dieser den Bogen überspannt hatte. 

    So saß Prigoschin dann da, im Haupquartier des südlichen Militärbezirks in Rostow am Don, dem am nächsten zur Front im Donbass gelegenen regionalen Sitz des russischen Verteidigungsministeriums, trank Kaffee und schaute in ratlose Gesichter von Vize-Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem Vize-Generalstabschef Wladimir Alexejew. "Was sollen wir denn machen?“, fragte Jewkurow, der Hilflose.

    Ausgerechnet der belarussische Machthaber Lukaschenko hilft der russischen Führung aus dem Dilemma

    Geholfen hat dann offenbar der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko. Ausgerechnet Lukaschenko, den die russische Führung stets als eine nicht ernst zu nehmende und von Russland abhängige Figur wahrnimmt und ihm nichts zutraut! Putin-Sprecher Dmitri Peskow erklärte am Samstagabend, Lukaschenko habe sich auf eigene Initiative hin um die Lösung des Konflikts bemüht, weil er Prigoschin seit 20 Jahren kenne. Und Putin? Kennt er ihn nicht seit Jahrzehnten? Der ausgehandelte Deal, zumindest der offizielle Teil davon: Prigoschin zieht sich nach Belarus zurück und bleibt straffrei. 

    Alexander Lukaschenko ist in Belarus seit 1994 an der Macht. Er soll sich auf eigene Initiative als Vermittler eingeschaltet haben.
    Alexander Lukaschenko ist in Belarus seit 1994 an der Macht. Er soll sich auf eigene Initiative als Vermittler eingeschaltet haben. Foto: Henadz Zhinkov/XinHua, dpa (Archivbild)

    Keine Rede mehr davon, dass der russische Generalstaatsanwalt wegen Aufrufs zum bewaffneten Widerstand gegen ihn ermittelt. Zwölf bis 20 Jahre Haft hätten gedroht. Auch die Ermittlungen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurden fallen gelassen. Genauso gehen die Kämpfer der Wagner-Gruppe straffrei aus; die, die sich nicht am Aufstand beteiligt hatten, können Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen, etwas, das Prigoschin – im Gegensatz zum Tschetschenien-Führer Ramsan Kadyrow, ebenfalls mit einer Privatarmee versehen – stets abgelehnt hatte.

    Man habe ein Blutvergießen vermeiden wollen, hieß es am Samstagabend aus dem Kreml. Prigoschin ließ in einer Audiobotschaft mitteilen, er sei sich seiner Verantwortung bewusst. Zu dem Zeitpunkt sollen Kadyrow und seine Truppe bereits vor Rostow gestanden haben. Der Tschetschenien-Herrscher hatte Moskau seine Hilfe angeboten. Es hätte in der Tat zu blutigen Kämpfen zweier Privatarmeen kommen können. Ein völliger Kontrollverlust.

    Putin, so hieß es aus dem Kreml, soll Prigoschin freies Geleit gegeben haben. Und das, nachdem er ihn als "Hochverräter“ bezeichnet hatte. In Putins Verständnis ist "Verrat“ nur mit dem Tod zu ahnden. In Rostow jubelten die Menschen, manche drückten Prigoschin die Hand, als dieser in einem dunklen Geländewagen davonbrauste. Anrückende Polizeiwagen begrüßten die Rostower mit "Schande“-Rufen.

    Der Aufstand der Wagner-Söldner hatte sich lange abgezeichnet

    Der Aufstand Prigoschins hatte sich seit Monaten abgezeichnet. Dass er möglich wurde, zeigt, wie lange der Kreml das Risiko des immer selbstständiger gewordenen Paramilitärs unterschätzt hatte. So lange, bis Szenen von bürgerkriegsähnlichen Wirren – seit dem Ende des Tschetschenien-Krieges hatte es solche Bilder nicht mehr gegeben in Russland – wieder möglich wurden. 

    Prigoschin war durchmarschiert, weil er die "Schande“, wie er die Arbeitsleistung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu nennt und gegen den er seit Monaten verbal massiv vorgegangen war, beendet wissen wollte. Solange das nicht geschehe, werde er Rostow blockieren und nach Moskau vorrücken, hatte er angedroht und dieses Vorhaben als "Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnet. 

    Moskau hatte seine Abwehrbereitschaft gestärkt, zum ersten Mal in seiner Geschichte gar eine sogenannte Antiterroristische Operation ausgerufen und alle Massenveranstaltungen abgesagt. Damit hatte der FSB die Kontrolle übernommen und weitere Kompetenzen hinzubekommen: Er darf alle Gespräche abhören, die Nachrichten im Internet kontrollieren, darf Fahrzeuge konfiszieren und Wohnungen durchsuchen. Er darf auch ohne Verdacht die Menschen durchsuchen und jeglichen Verkehr einschränken. Ebenso könnte er das Internet abstellen. In Moskau waren die GPS-Sender noch stärker gestört als ohnehin seit Wochen; an manchen Straßen standen Polizisten mit Maschinengewehren. Sonst herrschte vielerorts die übliche Ignoranz. "So ein Mist, das Schulabschlussfest meiner Tochter im Gorki-Park wurde abgesagt. Ich verstehe nicht warum“, sagte da ein Mann im Zentrum. "Sind diese Söldner dafür verantwortlich?“, fragte eine Frau ungläubig. "Aber was wollen sie denn überhaupt?“ Ein weiterer Mann beschwichtigte: "In ein paar Tagen ist alles wieder ruhig hier. Sie streiten sich, sie vertragen sich auch wieder. Wir haben eine wichtige Sache zu gewinnen“, meinte er. Die "wichtige Sache“ ist der Krieg in der Ukraine, den viele Russinnen und Russen, wenn auch nicht gut heißen, so doch rechtfertigen. "Wir stecken nun drin, dann müssen wir es auch zu Ende führen und siegen“, sagen sie dann. Nur langsam werden die Einschränkungen in den Regionen nun aufgehoben.

    Kein Zweifel an der "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine

    Der Kreml sagte am Samstagabend, an der Fortführung der "militärischen Spezialoperation“, wie der Krieg in der Ukraine in Russland offiziell heißt, gebe es keinen Zweifel. Die Kämpfe gehen weiter. Gelitten hat aber das System Putin als solches. Putin ist es nicht gelungen, Prigoschin frühzeitig deutlich zu machen, was dieser sich erlauben kann. Die Generäle standen ohnmächtig da. In der Elite dürften sich nun einige fragen, ob Putin noch ein sicherer Wert ist, für ihr Überleben zu sorgen.

    Putin selbst war es, der das Projekt Prigoschin erst zu dem machte, was es wurde. Er ließ ihn die Drecksarbeit in Afrika erledigen, in Syrien, in der Ukraine. Die Wagner-Gruppe wurde mit Straftätern aufgefüllt, die Gouverneure ließen Billboards mit Reklame für Prigoschins Truppe bekleben; in den Städten quer durch das Land entstanden Wagner-Rekrutierungszentren.

    In gewissen Kreisen hat Prigoschin durchaus Sympathien. Da er sich vor allem für die Belange der "kleinen Soldaten“ gegen die Schreibtischtäter der Generalität eingesetzt hatte und oft das aussprach, worüber die russische Führung zu schweigen zwingt, schätzten ihn vor allem die, die ein härteres Vorgehen in der Ukraine fordern. Gefangene, die er für seine Truppe mit Wissen der Staatsführung rekrutieren ließ, versprachen sich von ihm ein besseres Leben – und vor allem die Straffreiheit. Sie waren nicht mehr die Verbrecher, die die Gesellschaft aussondert, sondern vom Kreml gefeierte Helden. Vor allem, weil sie sich mit den brutalsten Methoden die ukrainischen Städte Soledar und Bachmut erobert hatten. Noch bis zum Herbst des vorigen Jahres hatte Prigoschin seine Verbindung zu Wagner geleugnet, die Öffentlichkeit gescheut. Dann aber wurde er zur Stimme derjenigen, die das Vorgehen der russischen Militärführung in der Ukraine kritisierten, wurde zur politischen Figur. Am Samstag sprach er von einem "baldigen neuen Präsidenten“ und hatte Putin zum ersten Mal direkt angegriffen. Ein Tabu bislang. Putin muss nun die Schmach des persönlichen Verrats hinnehmen.

    Spätestens seit dem Wagner-Aufstand ist der russische Rechtsstaat völlig obsolet geworden

    Als sich Putin am Samstagmorgen mit einer fünfminütigen Rede zum Aufstand äußerte, sprach er zwar von Helden in der Wagner-Gruppe, Prigoschin selbst aber nannte er nicht beim Namen. Eine Revolte führe nur zur Anarchie und sei tödlich für das Land und das Volk, hatte er gesagt, hatte vom "Dolchstoß“ in den Rücken gesprochen und das Vorgehen mit der Oktoberrevolution 1917 verglichen. 

    Kämpfer sitzen auf einem gepanzerten Fahrzeug, als sie sich darauf vorbereiten, Rostow zu verlassen.
    Kämpfer sitzen auf einem gepanzerten Fahrzeug, als sie sich darauf vorbereiten, Rostow zu verlassen. Foto: Uncredited, AP/dpa

    Einige Stunden nach seiner Rede krebste er zurück und ließ Prigoschin lächelnd aus Rostow abreisen. Der russische Rechtsstaat, von dem der Präsident redet und der angesichts der politisch gefällten Urteile gegen Andersdenkende sich längst selbst entblößt hatte, ist durch Prigoschins Erpressung nun völlig obsolet. Wie die Zukunft Prigoschins aussieht, ist unklar. Die Zukunft Putins ist zwar nicht bereits besiegelt, doch sein System hat einen schweren Vertrauensverlust einzubüßen. Der Aufstand zeigt, was möglich ist in Russland, welche Kräfte das System genährt hat. Des Dramas erster Teil ist zu Ende. Der Fortgang liegt im Nebel. Und wie sagte es Charms, der Dichter? "Uns allen ist speiübel.“

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