Ganz in Schwarz steht sie da, hinter ihr die Strafkolonie, in der ihr Sohn Alexej Nawalny die letzten Monate seines Lebens eingesessen hat, in der er am vergangenen Freitag starb. Ljudmila Nawalnaja spricht in die Kamera, es schneit leicht, sie sagt: „Ich wende mich an Sie, Wladimir Putin. Die Entscheidung der Frage hängt nur von Ihnen ab: Lassen Sie mich endlich meinen Sohn sehen. Ich fordere, unverzüglich den Leichnam Alexejs herauszugeben, damit ich ihn auf menschliche Weise beerdigen kann“, sagt sie an diesem Dienstag.
Seit Tagen hält sich die 69-Jährige in Nordwestsibirien auf, zwischen der „Besserungskolonie Nummer 3“ im Dörfchen Charp, wo das Leben des russischen Oppositionspolitikers plötzlich endete, und der Regionalhauptstadt Salechard, knapp 2000 Kilometer von Moskau entfernt. Sie wird von den Strafvollzugsbeamten ins Leichenschauhaus der Stadt geschickt, von dort in die Pathologie eines Krankenhauses. Wo der Leichnam ihres Sohnes ist, weiß die Mutter jedoch immer noch nicht.
Ljudmila Nawalnaja ist den Umgang mit den russischen Behörden gewohnt
Ljudmila Nawalnaja ist keine, die den Umgang mit russischen Behörden scheut. Sie kennt sie seit Jahren. Stunden verbrachte sie in russischen Gerichten, saß auf Holzbänken in der Ecke, hörte zu, versuchte zu verstehen, was Richterinnen und Richter in allerlei Verhandlungen erzählten, was sie ihrem Aljoscha (so der Kurzname von Alexej), dem Hoffnungsträger vieler Russinnen und Russen, vorwarfen. Es waren so viele absurde Vorhaltungen, selbst für Juristen kaum nachzuvollziehen. Die Rentnerin ertrug die staatlichen Erniedrigungen gegen ihren Sohn und mied die Öffentlichkeit. Nun steht sie selbst in dieser Öffentlichkeit, die sie begleitet auf ihrer unermüdlichen Suche nach dem Leichnam ihres Jungen – weil der russische Staat Alexej Nawalny auch nach seinem Tod erniedrigt. Und Ljudmila Nawalnaja mit.
Nach russischem Recht sind die Gefängnisbehörden dazu verpflichtet, den Leichnam eines in Haft Verstorbenen an die Angehörigen herauszugeben, so steht es in der Anordnung Nummer 93 des Justizministeriums aus dem Jahr 2005. Bis zu 30 Tage haben sie allerdings Zeit dafür. Um „chemische Untersuchungen“ vorzunehmen, wollen die Behörden nun offenbar den Leichnam noch 14 Tage zurückhalten, teilte das Team von Nawalny mit. Die Todesursache sei noch nicht geklärt, hieß es beim Untersuchungsausschuss des russischen Ermittlungskomitees. Mehr als 70.000 Menschen kämpfen in einer Petition für die Herausgabe der sterblichen Überreste an Nawalnys Familie.
Kreml befördert Gefängnis-Bedienstete
„Am frühen Morgen trafen Alexejs Mutter und ihre Anwälte im Leichenschauhaus ein. Rein durften sie nicht. Einer der Anwälte wurde regelrecht hinausgedrängt. Auf die Frage, ob Alexejs Leiche da sei, sagen die Mitarbeiter nichts“, schrieb Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch auf X, ehemals Twitter. Iwan Schdanow, den Leiter von Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK (in Russland als extremistisch eingestuft), erinnert das Katz-und-Maus-Spiel an die Tage nach Nawalnys Vergiftung im August 2020. Auch damals seien die Fristen immer wieder verlängert worden, Nawalnys Kleider nicht herausgegeben worden. „Sie sagen, sie seien interessiert daran, alles so schnell wie möglich zu erledigen, sagen, dass alles in einer Stunde entschieden sei. Diese prinzipienlosen Lakaien lügen unverhohlen. Sie wissen genau, dass in einer Stunde nichts entschieden wird, auch nicht nach einem Tag. Es ist doch klar, was sie jetzt tun. Die Spuren ihres Verbrechens beseitigen“, schrieb er auf X.
Im Kreml hieß es indes, es sei „nicht die Aufgabe der Präsidialverwaltung, sich um die Frage nach der Herausgabe einer Leiche“ zu kümmern. „Alle gesetzlich erforderlichen Maßnahmen werden unternommen“, sagte der Kremlsprecher Dmitri Peskow. Gesetze aber griffen bei Nawalny selten. Der Kreml lehnt auch eine von der EU geforderte internationale Untersuchung zum Tod Nawalnys ab. "Solche Forderungen akzeptieren wir überhaupt nicht", sagte Peskow. Stattdessen wurde bekannt, dass Putin mehrere Strafvollzugsbeamte befördert hat. Unter ihnen ist der zum Generaloberst des Innenministeriums beförderte Vizechef der Gefängnisbehörde FSIN, Waleri Bojarinew. Im Juli 2023 war im Zuge einer Gerichtsverhandlung gegen Nawalny eine Anordnung Bojarinews bekannt geworden, den Oppositionspolitiker beim Kauf von Lebensmitteln und täglichen Bedarfsgütern einzuschränken. Normalerweise können Häftlinge mit ihrem Geld ihre eigene spärliche Ration im Gefängnisladen etwas aufbessern. Ljudmila Nawalnaja wartet in Salechard derweil weiter auf ihren Aljoscha.