Alexej Nawalny hatte sich erhoben, hatte sich kurz am Tisch festgehalten, in seiner Gefängnisuniform, anderes war nicht erlaubt, und hatte vor der Richterin Sätze voller Verachtung gesagt. Sätze, die das russische Justizsystem in aller Deutlichkeit beschreiben: „Finden Sie es nicht selbst demütigend, so zu tun, als seien Sie Richter und Staatsanwälte, und in Wahrheit sind Sie nur ein Gerät, das lediglich das wiedergibt, was man Ihnen am Telefon mitgeteilt hat?“
Es war sein letztes Wort in einem konstruierten Verfahren wegen Beleidigung und Veruntreuung. An diesem Dienstag, eine Woche nach seinem gewohnt frechen Auftritt vor der Richterin, wird er genau deswegen verurteilt. Als hätte tatsächlich jemand am Telefon sein „Ok“ gegeben.
Alexej Nawalny zu weiteren neun Jahren Straflager verurteilt
Russlands Oppositionspolitiker, der Hunderttausende Unzufriedene quer durchs Land mobilisieren konnte, der einen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok überlebt hat, sich aber nie hat das Wort nehmen lassen, wird für neun weitere Jahre eingesperrt, in strengem Vollzug. Weil das russische Regime keine Kritiker duldet.
Gerichtsverfahren von Nawalny zu verfolgen, war schon immer eine schwierige Angelegenheit. Die Justiz wählte oft enge Verhandlungsräume, ließ Journalisten und Journalistinnen nicht in Gerichtsgebäude, schaltete auch gern Übertragungmonitore ein, die aus „technischen Gründen“ auch schnell wieder ausfielen. Zuletzt hatte es nur noch Gerichtsverhandlungen im sogenannten „Außendienst-Modus“ gegeben: Prozesse hinter Gefängnismauern.
Prozess gegen Oppositionspolitiker fand in Strafkolonie statt
Auch an diesem Dienstag. In Pokrow, der Strafkolonie etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt, hatten die Justizbeamten eine Aula zum Gerichtssaal umbauen lassen. Ein paar Räume weiter verbüßt Nawalny seine zweieinhalbjährige Strafe, weil er gegen Bewährungsauflagen in einem früheren, ebenfalls absurden Verfahren, verstoßen haben soll. Seit 428 Tagen sitzt der 45-jährige Jurist in Pokrow ein.
Etwa 100 Journalisten hatten sich am Dienstag vor der Anstalt eingefunden, in zwei Nebenräumen in der Nähe der Aula durften sie Platz nehmen, vor Monitoren, die – nach Berichten aus Pokrow – immer wieder ausfielen. Manchmal sollen weder Bild noch Ton gesehen und gehört worden sein. Russlands Justiz nennt den Prozess „offen und transparent“.
Nawalny soll Spendengeld seiner Antikorruptionsstiftung gestohlen haben
Die Richterin Margarita Kotowa, die kurz vor dem Schuldspruch befördert worden war, spricht gleich zu Beginn den Angeklagten für schuldig, danach liest sie ihre Begründung ab – wie so oft ist es auch dieses Mal letztlich die Anklageschrift. Das Strafmaß wird erst am Ende bekannt. So ist es üblich in russischen Prozessen. Nach fünfeinhalb Stunden murmelt Kotowa leise: „Neun Jahre.“
Die beiden Fälle haben keine Verbindung zueinander. Zum einen soll Nawalny, so ist das Gericht überzeugt, umgerechnet vier Millionen Euro gestohlen haben, die Menschen an seine Antikorruptionsstiftung FBK gespendet hatten. Vier angeblich Geschädigte hatten gegen ihn ausgesagt, zwei davon waren in der Zeit selbst im Visier der Justiz. Alle vier machten vor Gericht keine Ansprüche geltend. Der vermeintliche Kronzeuge der Anklage gab vor Gericht bekannt, seine Aussagen seien unter Druck erfolgt.
Nawalnys Stiftung ist mittlerweile aufgelöst. Die russische Justiz hatte sie als extremistisch eingestuft, wie zuletzt auch Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram – und damit in Russland verboten. Der zweite Fall bezog sich auf 104 Äußerungen Nawalnys bei einem früheren Prozess, die das Gericht als beleidigend einstufte. Brutal bringt ihn das System Putin nun noch länger zum Schweigen.