„Vielleicht sollte ich hier abhauen, es kommt immer näher. Was soll ich nur machen?“, sagt eine Männerstimme in einem wackeligen Handyvideo und flucht. Die Aufnahme, die am Dienstagmorgen in russischen Telegram-Kanälen zirkuliert, zeigt eine Drohne, die über Moskau fliegt. Es ist ein Erwachen, bei dem die Russinnen und Russen spüren können, wie sich Krieg anfühlt, also das, was sie seit mehr als 15 Monaten offiziell „militärische Spezialoperation“ nennen. „Warum dürfen die Russen die ukrainische Hauptstadt in einen Albtraum verwandeln und die Bewohner Moskaus sich ausruhen?“, hatte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko noch am Vorabend im ukrainischen Internetmedium Strana gefragt. In der Nacht auf Dienstag stand Kiew abermals unter schwerem Beschuss der russischen Armee. Wenige Stunden später waren einige Moskauer Straßen von Polizei, Feuerwehr und Geheimdienst umstellt. Im Südwesten der russischen Hauptstadt – hier finden sich bis zu 25 Etagen hohe Wohnblöcke, viele Schulen und Shoppingmalls – stauten sich die Autos, wie es kaum passiert in den frühen Morgenstunden eines Werktages.
Das russische Verteidigungsministerium sprach von einem „Terrorakt des Kiewer Regimes“, Belege dafür legte es nicht vor. Der Kreml sieht sich durch den Drohnenangriff darin bestätigt, die „Spezialoperation fortzuführen und die gesetzten Ziele zu erreichen“. Kiew wies die Beteiligung an der Drohnenattacke unterdessen zurück und reagierte mit Spott: „Womöglich wollen russische Drohnen ja zu ihren Absendern zurück“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak. „Natürlich sind wir nicht direkt daran beteiligt.“ Zugleich prognostizierte er, dass die Zahl der Anschläge auf russischem Staatsgebiet wohl weiter zunehmen werde. „Alle Menschen, die glauben (…), dass sie einen anderen souveränen Staat absolut straflos zerstören können, haben nach 15 Monaten noch nicht verstanden, dass sie 2014 nicht wiederholen können.“ Damals hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert.
Acht Drohnen sollen zum Einsatz gekommen sein
Acht Drohnen sollen laut Moskau eingesetzt worden sein. „Drei davon haben die Kontrolle verloren und waren von den angestrebten Zielen abgewichen“, hieß es in einer Pressemitteilung des russischen Verteidigungsministeriums. Fünf weitere Drohnen seien von der russischen Flugabwehr abgeschossen worden. Andere unbestätigte Quellen sprachen von bis zu 32 Flugobjekten. Einer der Orte, an dem eine offenbar abgeschossene Drohne abgestürzt und explodiert war, befindet sich nur wenige Kilometer Luftlinie von Nowo-Ogarjowo entfernt, der Vorstadt-Residenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Der Moskauer Bürgermeister beschwichtigte. Kaum waren die ersten Trümmer der Drohnen in den Straßen Moskaus gefunden und die umliegenden Häuser evakuiert worden, schrieb er in seinem Telegram-Kanal von „geringfügigen Schäden“. Fotos zeigten eine zersplitterte Fensterscheibe. Sprengladung soll in keinem Fall explodiert sein. Der Duma-Vizesprecher Pjotr Tolstoj, ein Kriegsbefürworter, forderte die „Mobilisierung aller Kräfte“. Um den „Beschuss Moskaus“ zu stoppen, müsse man „Kiew einnehmen“. In der Ukraine sind bis heute tausende Zivilisten durch russische Angriffe gestorben.
Wie Deutschland auf die Drohnen reagiert
In Deutschland beobachtet man die Entwicklung genau. Roderich Kiesewetter, CDU-Politiker und Oberst a. D., mahnt zur Vorsicht bei der Beurteilung. „Wer tatsächlich für die Drohnenangriffe verantwortlich ist, lässt sich nicht feststellen“, sagt der Militärexperte unserer Redaktion. Die Ukraine habe eine Verantwortung für die Drohnenangriffe verneint. „Es hätte auch keinen operativen Mehrwert für die Ukraine“, sagt er und lenkt den Blick in eine ganz andere Richtung: „Es könnten auch russische Partisanen etwaige Angriffe durchgeführt haben.“ Deshalb müsse man fragen, welchen Mehrwert eine eventuelle Inszenierung für den Kreml hätte. „Hier kommen zwei strategische Ziele infrage“, sagt Kiesewetter: „Die Vorbereitung der russischen Gesellschaft für eine weitere Mobilisierung und die hybride Beeinflussung und Schwächung der westlichen Unterstützung für die Ukraine.“
Tatsächlich gibt es im Westen die Sorge, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit westlichen Waffen nicht nur sein Land verteidigt, sondern auf russisches Gebiet feuern könnte. Gerade angesichts der Debatte über Kampfjets wächst daher die Nervosität. „Russland könnte mit inszenierten Angriffen darauf abzielen, die Unterstützung des Westens für die Ukraine – gerade mit F-16-Kampfjets und weitreichender Munition und Marschflugkörpern – zu verhindern“, glaubt Kiesewetter. „Denn Russland weiß sehr genau, dass Angriffe auf russisches Gebiet und auf zivile Einrichtungen für viele westliche Unterstützer insbesondere auch in Deutschland ein rotes Tuch sind.“ Somit könnte der Kreml Zweifel an der Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Ukraine schüren und versuchen, eine mögliche Lieferung von Marschflugkörpern oder auch Kampfjets zu verhindern. „Russland weiß sehr genau, dass es diese Waffensysteme sind, die der Ukraine einen wichtigen Mehrwert bringen müssen und könnte somit die Ukraine als verlässlichen Partner diskreditieren und die westliche Geschlossenheit in der Unterstützung torpedieren“, so der Experte.
Deshalb sei es umso wichtiger, den Blick auf das zu richten, was Russland in der Ukraine gerade anrichtet. In den vergangenen Tagen hat die russische Armee die Hauptstadt Kiew massiv ins Visier genommen und mit Drohnen und Raketen bombardiert. „Immer wieder werden von Russland dabei Flugabwehrraketen des Typs S-300 eingesetzt“, sagt Kiesewetter. „Das ist besonders grausam und brutal, da diese Systeme sehr ungenau sind und Russland deshalb ganz bewusst zivile Ziele in der Ukraine beschießt und zerstört.“ Deshalb sollte der westliche Fokus auf den Opfern in der Ukraine liegen. „Wir sollten uns in der Unterstützung der Ukraine nicht verunsichern lassen und die F-16-Allianz wie auch die Lieferung von weitreichender Munition wie Marschflugkörper des Typs Taurus forcieren“, mahnt er. „Die Ukraine hat ausschließlich ein Interesse, militärische Ziele und Versorgungslinien, Munitionslager und Kommandostationen der Russen zu treffen, damit der Terror durch Russland endlich aufhört.“