Der eingefrorene Krieg um die Ostukraine war weitgehend aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verschwunden. Auch wenn „eingefroren“ eigentlich zynisch ist, denn bei militärischen Scharmützeln starben und sterben ukrainische Soldaten, prorussische Rebellen im Donbass und immer wieder auch Zivilisten – getroffen von Querschlägern, zerfetzt von Landminen. Jetzt erinnern verwackelte Amateurvideos von russischen Militärkonvois, die sich in Richtung ukrainischer Grenze bewegen, daran, dass der Konflikt weiterhin ungelöst ist und erhebliches Potenzial für eine erneute militärische Eskalation hat.
Russland hat bezeichnenderweise gar nicht erst versucht, den Aufmarsch zu bestreiten. Es sei einzig und eine allein Sache Moskaus, inwieweit und wohin es seine Truppen innerhalb des Landes verschiebe, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskov kühl.
Die kurze Phase einer relativen Entspannung ist beendet
Seit einigen Tagen ist endgültig klar, dass die Phase einer relativen Entspannung der Lage nicht von Bestand ist. Spätestens seit dem Jahreswechsel ist der Waffenstillstand Makulatur, der Ende Juli 2020 eine starke Reduzierung militärischer Zwischenfälle bewirkte. Es wird wieder regelmäßig geschossen an den im Minzer Vertrag für die Ostukraine vereinbarten Demarkationslinien. Seit Januar vermelden die Behörden in der ukrainischen Hauptstadt Kiew 24 tote Soldaten. Ein Sprecher der Separatisten nennt 23 getötete Kämpfer. Der Tod eines fünfjährigen Jungen im Donbass heizt die Stimmung weiter an. Die Separatisten beschuldigen ukrainische Regierungstruppen, für den Fall verantwortlich zu sein. Kiew weist die Vorwürfe zurück.
Es tobt auch ein diplomatischer Krieg
Ähnlich gelagerte Fälle gibt es viele. Schließlich tobt auch ein diplomatischer Kampf zwischen der Ukraine und Russland um die Deutungshoheit in dem Dauerkonflikt. Vor sieben Jahren brachten die Rebellen erhebliche Teile der Gebiete Donezk und Luhansk entlang der russischen Grenze unter ihre Kontrolle. Auf rund 13.000 taxieren die Vereinten Nationen die Zahl der Todesopfer seitdem. Wichtige Punkte des 2015 vereinbarten Friedensplans von Minsk wurden nicht erfüllt: Weder eine Demilitarisierung noch politische Schritte zur Beendigung des Konflikts wurden erreicht.
Für weitere Spannungen sorgte die zunächst verdeckte, dann offene Annexion der Krim durch Russland. Der Westen macht den Kreml und seine militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung für die Separatisten für die Lage verantwortlich und reagierte mit Sanktionen gegen Moskau, die in veränderter Form noch heute in Kraft sind. Im März 2015 beschloss der Europäische Rat, die Sanktionen erst aufzuheben, wenn die Minsker Vereinbarungen vollständig umgesetzt sind.
Davon ist man heute wieder meilenweit entfernt. Daran, dass die Krim in absehbarer Zeit wieder unter die Hoheit von Kiew kommt, glaubt wohl auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht. Doch auf die Ostukraine zu verzichten, wäre für ihn politischer Selbstmord: „Kiew hat die Krim 2014 relativ leichten Herzens fahren lassen. Ungleich wichtiger sind der Regierung die Regionen in der Ostukraine, wie der Donbass, die dem Herzen der Ukraine sehr viel näher sind“, sagte die Ukraine-Expertin Kerstin S. Jobst vor einiger Zeit unserer Redaktion.
Selenskyj sieht ein Nato-Beitritt als Ausweg
Aus Selenskyjs Sicht ist es nur konsequent, einen Beitritt seines Landes in die Nato als „einzigen Weg“ zum Frieden zu bezeichnen. Doch dieser Schritt hätte derart große diplomatische Sprengkraft, dass er nicht auf der Tagesordnung der Nato-Mitglieder steht. Außerdem ist der Westen nicht zufrieden mit den Reformbemühungen in der Ukraine, die sich derzeit fest im Griff der Corona-Pandemie befindet. Selenskyj selber schlägt in Teilen der Bevölkerung Ernüchterung entgegen, da es ihm nicht gelungen ist, einen Draht nach Moskau zu knüpfen, über den Bewegung in den festgefahrenen Konflikt kommen könnte.
Moskau hingegen schafft Tatsachen. Völkerrechtswidrig bietet Russland den Bewohnern der ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk die russische Staatsbürgerschaft an. Nach allerdings nur schwer zu verifizierenden Berichten haben seit Juni 2019 rund 400.000 Bewohner der Gebiete russische Pässe beantragt und auch erhalten.
Kommentatoren in russischen Medien fordern ganz offen, den Donbass an Russland anzugliedern. Zuletzt geschehen im russischen Auslandsfernsehsender RT, also auf einer medialen Plattform, die keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Präsident Wladimir Putin solche Äußerungen billigt. Das bedeutet nicht, dass Putin sich entschlossen hat, ein weiteres militärisches Abenteuer zu wagen. Doch es lässt den Schluss zu, dass der Kreml den Druck im Donbass erhöhen will.
Die russische Zeitung Nesawissimaja Gasetaglaubt nicht, dass Russland an einer neuerlichen Eskalation mit der ukrainischen Seite wirklich interessiert ist, da einem großen militärischen Konflikt „härteste Sanktionen gegen Moskau folgen würden, was die sozial-ökonomische Krise im Land weiter vertiefen würde“. Andererseits bereite sich Moskau auf einen möglichen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt im Westen mit einer offenen Truppenverlegung vor.
Wer weiß schon, für welche Option sich Putin am Ende entscheidet?
Lesen Sie auch:
- US-Präsident Joe Biden verspricht: "Amerika ist zurück"
- Deutschland darf nicht länger an Nord Stream festhalten
- Warum russische Fake-News in Deutschland so erfolgreich sind