Das letzte bekannte Lebenszeichen zeigt Alexej Nawalny in scheinbar guter Stimmung, als er am Donnerstag in schwarzem Gewand per Videoschalte in einer Gerichtsverhandlung auftrat. Er scherzte sogar mit dem Richter. Der möge ihm für die zahlreichen Geldstrafen, die er ihm bereits aufgebrummt habe, doch etwas von seinem Gehalt abtreten. Am Tag darauf schockierte die Nachricht vom Tod des 47-Jährigen in der Strafkolonie "Polarwolf" im Dörfchen Charp am Polarkreis seine Angehörigen und Anhängerschaft im In- und Ausland so sehr wie vor fast genau zwei Jahren zuvor Russlands Angriff auf die Ukraine.
Nach einem "Spaziergang" in der eisigen Strafkolonie sei Nawalny zusammengebrochen, teilte die russische Gefängnisbehörde FSIN am Freitagnachmittag mit. Der halbstündige Wiederbelebungsversuch habe keinen Erfolg gehabt. "Um 14.17 Uhr (Ortszeit) stellten die Ärzte den Tod fest", hieß es.
Nach unbestätigten Angaben soll sich ein Blutgerinnsel gelöst und zum Tod geführt haben. Moskauer Ärzte seien für eine forensische Untersuchung in die knapp 3600 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernte Region aufgebrochen, teilten die Behörden mit. Auch Nawalnys Anwalt Leonid Solowjow sei nach Charp unterwegs, schrieb Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch. "Wir sind gerade dabei, die Dinge zu klären", erklärte sie. "Alexej hatte am Mittwoch einen Anwalt bei sich, da war alles normal. Nawalnys Mutter, Ljudmila Nawalnaja, schrieb auf Facebook: "Wir haben ihn am 12. Februar bei einem Treffen im Gefängnis gesehen. Er war lebendig, gesund und glücklich."
Im August 2020 überlebte Nawalny ein Anschlag mit Nervengift
Alexej Nawalny hatte vor mehr als drei Jahren einen Anschlag mit dem Nervengiftgas Nowitschok überlebt, hinter dem aller Wahrscheinlichkeit nach der russische Geheimdienst stand. Nun bezahlt Nawalny seinen unerschrockenen Kampf gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin doch mit dem Leben. 27-mal war er in den vergangenen Monaten in Isolationshaft. Nawalnys Ärzte sprachen immer wieder davon, dass die drei Jahre andauernden Qualen kaum ein Mensch aushalten könne.
Russlands Liberale wie auch Politiker im Westen bezeichneten Nawalnys Tod als "politischen Mord". "Es fühlt sich an, als hätte noch ein Krieg begonnen", schrieb der russische Journalist Alexander Tschernych auf Telegram. Michail Chodorkowski, ehemaliger Ölmagnat und Putins früherer Feind Nummer eins, erklärte: "Die Verantwortung für seinen Tod hat allein Putin, unabhängig vom formalen Grund."
In Moskau legten Menschen Nelken und Rosen vor dem Haus ab, in dem Nawalny vor seiner Vergiftung gewohnt hatte. In europäischen Städten hielten Menschen Plakate in der Hand. "Putin ist ein Killer", stand darauf. Nawalnys Frau Julia sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz: "Wenn es tatsächlich stimmt, werden Putin und alle, die für ihn arbeiten, nicht straflos davonkommen." Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Nawalny nach dem Giftanschlag zur Behandlung in der Berliner Charité ausfliegen ließ und ihn dort besucht, nannte den Oppositionspolitiker ein "Opfer der repressiven Staatsgewalt Russlands."
Präsident Putin weilte derweil in einem Unternehmenspark in Tscheljabinsk am Ural, wo er allerlei Maschinen in Augenschein nahm. Informiert sei der Präsident bereits, teilte sein Sprecher Dmitri Peskow mit. Bei seiner Ansprache vor den Mitarbeitern der Unternehmen ging Putin nicht auf den Tod seines Widersachers ein. Ein Wort des Beileids äußerten weder Putin noch Peskow. Russlands kremltreue Politiker forderten eine "gründliche Untersuchung, um westliche Informationsangriffe abzuwehren", wie Sergej Mironow, der Vorsitzende der Partei von "Gerechtes Russland", es nannte.
Eine unabhängige Untersuchung in einem solch geschlossenen System wie einer russischen Strafkolonie, zumal von einem, der offiziell als "Feind", "Extremist" und "Verräter" wahrgenommen wird und dessen Namen der russische Präsident nicht einmal in den Mund nimmt, dürfte allerdings kaum zu erwarten sein.
Keine Schikane konnte Nawalnys Ironie zerstören
Bei der Videoschalte während einer Gerichtsverhandlung wirkte Nawalny zwar gelassen, gewitzt und gelöst. Doch auch wenn ihm keine Schikane seine Ironie nehmen konnte, kämpfte er sichtbar abgemagert und stark geschwächt aus seinem Gefängniskäfig für ein demokratisches Russland. Einen Monat vor Russlands "Wahl" am 17. März, vor Putins fünfter Wiederbestätigung als Präsident, hat ihn der Kampf gegen Putin das Leben gekostet. Die Staatsmacht hat ihn all die Jahre, mit einem absurden Prozess nach dem nächsten und mit immer härteren Haftbedingungen, von der Gesellschaft isoliert, malträtiert, gefoltert.
Putins Regime hat lange vor dem Krieg in der Ukraine, den Nawalny aufs Schärfste verurteilte, seinen Kritikern mit aller Macht klarzumachen versucht: "Legt euch nicht mit uns an." Nawalny war der bekannteste russische Oppositionelle, der gegen diese Formel immer wieder verstoßen hatte. 2011 war er als Antikorruptionsblogger gestartet, um Bereicherungssysteme von hohen Beamten aufzuspüren – und wurde mit der Zeit immer politischer. Im ganzen Land entstanden Unterstützungsgruppen. Nawalny fand schnell die Sprache, die vor allem von der Jugend als die ihre anerkannt worden war. Endlich einer, der sich was traue, einer, der was bewegen wolle, sagten sie. Nawalny, selbstbewusst, brutal realistisch und kompromisslos, konnte fesseln. Auch wenn er mit seiner besserwisserischen Art viele Menschen vor den Kopf stieß, hörten sie zu.
Er gab vielen in Russland die Möglichkeit, an Veränderungen zu glauben. Daran, dass sich etwas bewegen ließe im Land, dass es ein besseres Leben ohne Angst geben könnte. Er war ihr Hoffnungsträger. Eine Projektionsfläche. Ihr Anti-Putin, der zugänglich war. Der sich mit seiner Tochter Dascha und seinem Sohn Sachar ablichten ließ, der seine Frau Julia vor allen Kameras küsste, auch dann, wenn Polizisten ihn wieder einmal abführten.
Sein Credo bleibt der Welt erhalten: "Gebt niemals auf!"
Nawalny verschwand für Tage und Wochen in Arrestzellen und kam lächelnd wieder heraus. Bis zur nächsten Demonstration. Es war der Kreml selbst, der ihn mit zu einer Alternative machte, die es nicht geben darf in einem System, das keine Alternative vorsieht. Dann nahm das Regime Rache an einem Unbeugsamen: mit Nowitschok , danach mit jahrelangen Haftstrafen. Nach seinem Klinikaufenthalt in Deutschland war der Politiker im Januar 2021 zurück nach Russland geflogen. Bewusst. Er wollte reinen Gewissens sein, auf diese Weise zeigen, dass er mit den Menschen in seinem Land ist, dass er aus dem Land heraus für die Freiheit kämpft, die den Russinnen und Russen verwehrt wird. Im Exil, so machte er deutlich, könne er seinem politischen Anspruch schlicht nicht gerecht werden. Er wollte eine glaubwürdige Identifikationsfigur sein.
Nawalny, der stets Willensstarke und ironisch Feixende, hat es nicht aus der "Hölle" geschafft, wie selbst Strafvollzugsbeamte ihre Strafkolonien nennen. Seinen Anhängern ließ er seine feste Überzeugung zurück: "Gebt niemals auf!"