Dreieinhalb Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine geht die Invasion langsam voran. Nach ukrainischen Angaben ist der Frontverlauf "praktisch eingefroren", Moskau meldete ein Vorrücken um zwölf Kilometer im Osten der Ukraine.
Kiew warf der russischen Armee ein immer brutaleres Vorgehen vor. Vor allem die Lage in der belagerten Hafenstadt Mariupol bleibt katastrophal. Russland berichtete von Einsätzen seiner neuen Hyperschall-Rakete "Kinschal" gegen zwei militärische Ziele. Viele Menschen starben am Wochenende, weitere wurden verletzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden durch den Krieg bereits zehn Millionen Menschen und damit knapp ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung vertrieben, 3,4 Millionen hätten das Land verlassen. In Deutschland wird weiter über die Verteilung von Flüchtlingen diskutiert.
Angaben der Ukraine und Russlands zum Kriegsgeschehen sind nicht unabhängig überprüfbar.
Selenskyj bereit zu Verhandlungen mit Putin
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unterstrich am Sonntag seine Bereitschaft zu Gesprächen mit Kremlchef Wladimir Putin. Dem US-Sender CNN sagte er: "Wenn es nur eine einprozentige Chance gibt, diesen Krieg zu stoppen, dann denke ich, dass wir sie ergreifen müssen." Die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine stünden aber nicht zur Verhandlung. Vom Westen forderte Selenskyj Sicherheitsgarantien für sein Land.
Ukrainische Medien berichteten, dass Delegationen aus Kiew und Moskau am Montag weiter über ein Ende der Kampfhandlungen verhandeln wollen.
In einer Videobotschaft an Israels Parlament setzte Selenskyj Russland mit Nazi-Deutschland gleich und warf dem Kreml einen Plan zur Auslöschung der Ukraine vor. "Hört darauf, was jetzt in Moskau gesagt wird: "Endlösung", aber jetzt bereits in Bezug auf die ukrainische Frage", sagte der Präsident mit jüdischen Wurzeln mit Bezug auf die sogenannte "Endlösung der Judenfrage", wie die Ermordung von Millionen Juden durch Nazi-Deutschland genannt wurde.
Front "praktisch eingefroren"
Olexij Arestowitsch, Berater von Selenskyjs Büroleiter, sagte, weder die russische noch die ukrainische Seite hätten genug Kraft, um die Situation in die eine oder andere Richtung zu drehen. Auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach davon, dass der russische Vormarsch ins Stocken geraten sei, weshalb man "gezielte Angriffe auf Städte und Zivilisten" erlebt habe. Dem Stocken schrieb er auch den Einsatz der russischen Hyperschallrakete zu, von dem Moskau am Wochenende berichtete. Er halte den Einsatz der "Kinschal" aber nicht für einen entscheidenden Wendepunkt, so Austin.
Mit der erstmals im Kampf eingesetzten "Kinschal" (Dolch) traf das russische Militär nach eigenen Angaben ein Treibstofflager und ein Munitionsdepot. Die Raketen übertreffen die Schallgeschwindigkeit um ein Mehrfaches. Die Bundesregierung äußerte laut Funke Mediengruppe Besorgnis über den Einsatz.
Die Ukraine erhielt von Deutschland 500 Luftabwehrraketen vom Typ Strela. Die Waffen wurden am Donnerstag übergeben, hieß es aus ukrainischen Regierungskreisen. Darüber berichtete zuerst die "Welt am Sonntag". Ursprünglich war von bis zu 2700 Raketen die Rede.
Viele Tote bei Angriffen
Zu Opfern beim Angriff am Samstag auf eine Kunstschule in Mariupol gab es zunächst keine Angaben. Der Stadtrat machte russische Truppen verantwortlich. Das Gebäude sei zerstört worden, Menschen lägen noch unter Trümmern. Frauen, Kinder und Ältere hätten dort Schutz gesucht.
Bei russischem Beschuss in Charkiw gab es laut ukrainischem Militär mindestens zwei Todesopfer, darunter ein Kind. Auch um die nordukrainische Stadt Tschernihiw sowie um Butscha, Hostomel und Worsel nahe Kiew gibt es demnach schwere Gefechte. Auch der Beschuss auf Vororte der Stadt Sumy im Nordosten dauere an. Nach einem Raketenangriff auf eine Kaserne in Mykolajiw im Süden des Landes sollen Helfer am Samstag mindestens 50 Tote geborgen haben. Luftangriffe wurden am Sonntag auch an weiteren Orten gemeldet.
Humanitäre Korridore in umkämpften Gebieten
Um Kiew, Charkiw und Mariupol wurden nach ukrainischen Angaben erneut humanitäre Korridore für Zivilisten und Hilfsgüter eingerichtet. Am Samstag berichteten Kiew und Moskau von der Evakuierung Tausender Zivilisten aus besonders umkämpften Gebieten. Der Stadtrat von Mariupol warf Moskau vor, Zivilisten gegen ihren Willen nach Russland gebracht zu haben.
Moskau behauptete, Kiew bereite Angriffe auf Zivilisten und westliche diplomatische Einrichtungen in Lwiw vor, um dann Russland zu beschuldigen. Die Ukraine wirft Russland vor, Unwahrheiten zu verbreiten, um dann selbst unter falscher Flagge angreifen zu können.
Ukraine verbietet Arbeit prorussischer Parteien
Einer Reihe von prorussischen Parteien in der Ukraine wurde für die Dauer des Kriegs im Land die Arbeit verboten. Die Opposition rief ihre Abgeordneten auf, ihre Arbeit fortzusetzen.
In einem weiteren Dekret ordnete Selenskyj an, dass alle TV-Sender mit Nachrichtenanteil vorerst nur noch ein Einheitsprogramm zeigen dürfen. Der Großteil der landesweiten Sender hatte sich bereits kurz nach Kriegsbeginn zusammengeschlossen.
Fast 220.000 Geflüchtete in Deutschland
In Deutschland sind seit Kriegsbeginn 218.301 Kriegsflüchtlinge von der Bundespolizei festgestellt worden, wie das Innenministerium am Sonntag mitteilte. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein, da es im Regelfall keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen gibt.
Die Verteilung der Kriegsflüchtlinge funktioniert aus Sicht des Deutschen Städtetages noch immer nicht richtig. Städte bräuchten dringend Entlastung, sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy der dpa. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) forderte in der "Bild am Sonntag" einen nationalen Krisenstab im Kanzleramt. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) will beim Treffen ihrer EU-Amtskollegen am Montag die Verteilung von Flüchtlingen ansprechen.
Papst Franziskus forderte in Rom erneut ein Ende des Krieges: "Es ist ein unsinniges Gemetzel, es gibt keine Rechtfertigung dafür."
Tausende protestierten in deutschen Städten am Sonntag gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine. Zur Solidaritätskundgebung "Sound of Peace" vor dem Brandenburger Tor kamen bis zum frühen Abend nach Polizeischätzung 15.000 Menschen.
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