Brigadegeneral Christian Freuding sieht die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive vor weiteren schweren Kämpfen. "Man muss ja nur mal auf die Karte blicken und da haben wir ein Kräfteverhältnis von ungefähr eins zu eins. Und eine neun Monate lang vorbereitete Verteidigung mit starken Geländeverstärkungen und seit einem halben Jahr vorbereiteten Minensperren. Das ist Realität", sagte der Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Für Vorstöße müsse eine örtlich und zeitlich begrenzte klare Kräfte-Überlegenheit erzeugt werden. "Und das begründet auch das sehr vorsichtige, um es unmilitärisch auszudrücken, tastende Vorgehen der Ukrainer, diese Stelle zu finden. Und das ist schwierig genug", sagte der Offizier, der auch die militärische Hilfe Deutschlands für die Ukraine koordiniert.
Gegenoffensive der Ukraine kommt langsam voran
Russland hatte die Ukraine am 24. Februar 2022 mit einer Großoffensive angegriffen. Westliche Staaten unterstützen die Verteidigung der Ukraine mit Waffenlieferungen und auch finanziell. Die Bundesregierung hat die Panzerhaubitze 2000 und Waffensysteme zur Luftverteidigung geliefert, dann auch den Kampfpanzer Leopard 2 und den Schützenpanzer Marder. Die mit großen Erwartungen verknüpfte Gegenoffensive der Ukraine läuft seit Anfang Juni. Sie kommt nur langsam voran.
"Unser Grundsatz ist ja: Auftreffen auf Minensperre, ausweichen, umgehen. Bei dem Ausmaß der Minensperren, die in neun Monaten da angelegt wurden, ist dieser Grundsatz gar nicht zu befolgen", sagte Freuding. "Die Ukraine muss sich wirklich jeden Meter Geländegewinn dadurch erarbeiten, dass sie Minensperren unter Feuer öffnet. Und das ist das Schwierigste, das Blutigste, das Dramatischste, was man sich überhaupt vorstellen kann." Deutschland habe deshalb kurzfristig reagiert und in den letzten Wochen noch mal 14.000 Schuss Nebelmunition im Kaliber 155 Millimeter geliefert, "um zu unterstützen, dass das Öffnen zumindest nicht unter direkter Beobachtung und feindlicher Wirkung ermöglicht wird".
Nach dem Rückzug der Wagner-Söldner von der Front in der Ukraine, der nach dem bewaffneten Aufstandsversuch der Privatarmee erfolgte, sieht Freuding die Kampfkraft Russlands insgesamt nicht eingeschränkt. "Sie ist geschwächt, rein numerisch. Wir gehen ja von einer Zahl zwischen 15.000 und 25.000 Kämpfern aus, zum Teil auch sehr gut ausgerüstet, sehr erfahren mittlerweile", sagte er. Eine Bewertung wie "entscheidend geschwächt" würde er nicht verwenden. Gemessen an dem Volumen, das Russland weiterhin zur Verfügung stehe und der Möglichkeit, Reserven zu mobilisieren, werde sich das nicht grundsätzlich auf die Möglichkeiten der militärischen Operationsführung Russlands auswirken.
Unruhe in Russland
Nach dem abgebrochenen Aufstand hat die Organisation Wagner einen Teil ihrer Militäraktivitäten nach Belarus verlegen müssen. Die russische Absicht sei wohl, "dass die erst mal aus dem Land raus sind, um deren Möglichkeiten zu reduzieren, in Russland Unruhe zu stiften", sagte Freuding.
Eine militärische Absicht lasse sich objektiv noch nicht erkennen. "Wir erkennen derzeit keine Anzeichen, dass sich in irgendeiner Form daraus eine konkrete militärische Gefährdung für Polen oder die Ukraine ergibt. Aber ich kann das durchaus nachvollziehen, dass Polen seine Maßnahmen zur Landesverteidigung verstärkt", sagte der Brigadegeneral.
Auf die Frage, ob Unruhe in Russland nach der jüngsten Ablösung von Generälen ein Hoffnungsschimmer für den Westen seien, sagte er, dies sei derzeit "Wunschdenken". Doch zeichneten sich mögliche Bruchlinien im Machtgefüge ab. "Was wir natürlich beobachten, und das können wir auch alle nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch in der öffentlichen Berichterstattung nachvollziehen, dass diese monolithische Einheit des militärischen Systems Russlands auch ganz offensichtlich Risse aufweist", sagte Freuding.
"Wie weit die reichen und ob die so weit reichen, dass sie den Einsatzwert der russischen Truppen in der Ukraine berühren, das lässt sich von hier aus kaum seriös bewerten. Aber dass es sie gibt, das ist offensichtlich. Und sie können langfristig auch Auswirkungen auf das innere Gefüge haben." (Von Carsten Hoffmann, dpa)