In den Archiven des Bundestages wird die Debatte über die Stationierung von nuklearen Pershing-II-Raketen in Europa als historischer Meilenstein geführt. Infolge des Nato-Doppelbeschlusses - der einerseits Abrüstungsverhandlungen mit der damaligen Sowjetunion und andererseits die Stationierung eigener Mittelstreckenwaffen für den Fall eines Scheiterns dieser Gespräche vorsah – schlugen in den 80er-Jahren Massenproteste im ganzen Land bis ins Parlament durch.
So soll es nach dem Willen des Bundestagsabgeordneten Volker Ullrich auch heute kommen. Anders zwar und sicherlich abgeschwächt, aber der CSU-Politiker ist der Meinung, dass die ab 2026 geplante Stationierung von verschiedenen US-Mittelstreckenwaffen auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt werden sollte.
„Es ist richtig, dass sich Kanzler Olaf Scholz klar und deutlich zur Stationierung amerikanischer Raketen bekannt hat“, sagte Ullrich unserer Redaktion. Notwendig wäre aber auch eine Erklärung des Regierungschefs nebst einer Debatte dazu im Bundestag. „Dieses Thema sollte in der Öffentlichkeit und im Parlament breit diskutiert werden“, meinte Ullrich.
„Die Kompetenzverteilung unseres Grundgesetzes sieht zwar nicht zwingend vor, dass sich der Bundestag damit befassen muss“, räumte der Innenexperte ein. Das aber sei politisch nicht zufriedenstellend. „Ein positives Votum des Bundestages wäre zudem ein starkes Zeichen für Freiheit, Sicherheit und das transatlantische Bündnis“, erklärte Ullrich.
US-Raketen in Deutschland: Im Juli wurde das Militärprojekt in Washington vorgestellt
Deutschland und die USA hatten im Rahmen des Nato-Gipfels in Washington im Juli bekannt gegeben, US-Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren zu wollen. Dabei geht es um Tomahawks mit mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, um Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und um neu entwickelte Überschallwaffen. Die ersten Waffen sollen 2026 in Deutschland eintreffen. Wo genau sie stationiert werden, ist nicht bekannt. Die Raketen sollen eine Lücke in der Abschreckungsfähigkeit schließen, bis Europa selbst im Besitz vergleichbarer Waffen ist. Die Regierung hat die Stationierung der US-Langstreckenraketen in Deutschland genehmigt. Eine Zustimmung des Bundestags würde erst nötig, sobald Kosten für den Bund entstehen.
Die Bekanntmachung der Pläne im Juli hatte nicht zuletzt in der SPD für Irritationen gesorgt. Viele Abgeordnete im Bundestag fühlten sich überrumpelt. Auch CDU-Chef Friedrich Merz zürnte, dass der Bundestag von Kanzler Scholz übergangen worden sei. Ullrich selbst ist wie Merz für die Raketenstationierung. „Wir haben eine derzeit angespannte geopolitische Lage. Aggressionen muss man durch eigene Stärke begegnen, um damit einen Konflikt zu vermeiden“, begründete er seine Haltung. Zu dieser Stärke brauche es auch die Stationierung der Raketen. „Ähnlich wie in den 1980er Jahren sollte es auf Basis dieser Stärke perspektivisch gerne wieder zu Gesprächen über Abrüstung kommen“, ergänzte Ullrich.
Der Osteuropaexperte Wilfried Jilge verteidigte im Deutschlandfunk den Standpunkt von Kanzler Scholz: „Bei all dem, was Putin zurzeit macht, können wir nicht mehr ignorieren, dass wir einer massiven Bedrohung ausgesetzt sind.“ Es gehe bei dem Nato-Beschluss „um nichts anderes als den Schutz der Zivilbevölkerung“.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) fordert eine Volksbefragung
Das Bündnis Sahra Wagenknecht dringt sogar auf eine „Volksbefragung zur US-Raketenstationierung“. Wie die Gruppe BSW im Bundestag in einem entsprechenden Antrag erklärt, habe es vor der Stationierungsentscheidung Debatten weder im Bundestag noch in der Öffentlichkeit gegeben. Das BSW beruft sich auf eine Forsa-Umfrage, nach der eine relative Mehrheit der Menschen in Deutschland die Stationierung der US-Raketen ablehnt. Demnach sind 45 Prozent dafür und 49 Prozent dagegen. Im Osten ist die Skepsis gegen das Rüstungsprojekt noch deutlich größer. Eine Mehrheit für den BSW-Antrag gilt jedoch als nahezu ausgeschlossen - zumal das BSW nur zehn Abgeordnete im Bundestag stellt. Zudem sieht das Grundgesetz eine Volksabstimmung nur vor, wenn es um eine Neugliederung des Bundesgebiets geht.
Die Debatte um die Stationierung bestimmt aktuell auch die schwierigen Sondierungsgespräche für eine Regierungsbildung in Thüringen. Das BSW als potenzieller Koalitionspartner für CDU und SPD nannte als Bedingung für Verhandlungen, dass sich eine neue Thüringer Regierung gegenüber der Bundesregierung klar gegen US-Raketen in Deutschland positioniert. Die BSW-Co-Chefin Sevim Dağdelen sprach sich in der Berliner Zeitung für eine Beteiligung des Bundesrates aus, um mehr Druck auf Berlin auszuüben.
Das BSW zeigt wieder einmal deutlich, was es vom Grundgesetz und von Vereinbarungen hält, nämlich gar nichts. Deutschland ist Teil des Verteidigungsbündnisses NATO, welches Frau Wagenknecht ja auch abschaffen will. Aber das interessiert deren Wähler herzlich wenig, gerade im Osten sehnt man sich offenbar wieder in alte DDR-Zeiten zurück.
Der Artikel und auch der Leserkommentar dazu lassen vermuten, dass ganz allgemein davon ausgegangen wird, Deutschland besäße die Souveränität, die Raketenstationierung auch ablehnen zu dürfen. Nach allem was mir bekannt ist, ist das rechtlich aber nicht so eindeutig. (Aber was ist bei uns schon ganz eindeutig? Ich habe bei diesem Thema schon vor rund einem Monat auf den Aufenthaltsvertrag von 1954 mit den „Drei Mächten“ [Besatzungsmächte in der BRD] und die Stellungnahme der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages – WD 2 - 3000 - 047/24 – hingewiesen.)
Deutschland ist souverän. Wenn manchmal vor dem "großen Bruder" eingeknickt wird ist das eine politische Entscheidung, die auch anders ausfallen könnte - mit den jeweiligen Konsequenzen. Ob die Stationierung von Mittelstreckenraketen sinnvoll wäre ist ein anderes Thema. Ich glaube, daß die Bundesregierung eine Entscheidung pro oder contra auch ohne das Parlament durchführen kann.
Deutschland die Souveränität in dieser Frage abzusprechen, kommt dem Verschwörungsgeschwurbel der AfD und des BSW schon sehr nahe. Europa hat den weitreichenden Angriffswaffen Russlands derzeit wenig entgegenzusetzen, deswegen ist die Stationierung der US-Raketen unbedingt notwendig: "Die Raketen sollen nur eine begrenzte Zeitlang auf deutschem Boden bleiben. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) betonten mehrfach, dass mit den US-Raketen eine „Lücke“ in der Abschreckungskapazität geschlossen werde, bis Europa selbst im Besitz vergleichbarer abstandsfähiger Präzisionswaffen sei. Die Bundesregierung hat die Stationierung der US-Langstreckenraketen in Deutschland genehmigt." https://www.deutschlandfunk.de/raketenstationierung-us-nato-deutschland-mittelstreckenraketen-100.html
@Wolfgang Böldt @Wolfgang Leonhard Herr Böldt, vorweg besten Dank für Ihre freundliche Antwort. | Da die 1000-Zeichen-Regel nicht viel mehr zulässt, nur kurz zur Rechtslage: 1954 haben die Besatzungsmächte USA, Großbritannien und Frankreich mit der BRD einen Aufenthaltsvertrag für ihre Streitkräfte geschlossen. Im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands wurde die Fortgeltung des Aufenthaltsvertrags durch die „Vereinbarung vom 25. September 1990 zu dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland“ bestätigt und ergänzt. | Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben sich nicht nur 2024 (Fundstelle siehe oben), sondern auch 2014 dazu geäußert: „Grundlage für den dauernden Aufenthalt von US-Streitkräften in Deutschland (das sog. ius ad praesentiam) ist bis heute der sog. Aufenthaltsvertrag vom 23. Oktober 1954.“ (www.bundestag.de/resource/blob/406156/b66cc93fd4a367ea52681c5876f6a19d/WD-2-034-14-pdf.pdf;2014)
OK Herr Eimiller. Ich kann Ihren Link nicht aufrufen ("White Label Error Page"). Macht nichts. Ein Vertrag ist aber ein Zeichen für die Souveränität der Vertragspartner. Da besagter Vertrag 1990 bestätigt wurde, und Deutschland in diesem Jahre die volle Souveränität erlangte, war es die Entscheidung eines souveränen Staates. Anmerkung außerhalb dieses Themas: die 1000 Zeichen-Regel. 500 Zeichen würden locker auch genügen: Karl Popper sagte mal: "Wer's nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiter arbeiten, bis er's klar sagen kann"
K. R. Popper und sein Kritischer Rationalismus gaben auch Helmut Schmidt Orientierung. Popper beschreibt ihn als Lebenseinstellung, „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“. (Wikipedia) Poppers Vorliebe für Kurzfassungen war mir allerdings bislang nicht bekannt.
Herr Eimiller, warum hat die Bundesregierung die Stationierung der Waffen überhaupt genehmigt, wenn diese außerhalb ihrer Entscheidungsgewalt war? Was würde dann eine Ablehnung der Stationierung durch den Bundestag bringen? Wozu hat sich Helmut Schmidt seinerzeit für den Nato-Doppel-Beschluss eingesetzt? Alles nur politisches Schauspiel zur Verdummung der Leute? Ich glaube, Sie bringen da etwas durcheinander.
Herr Leonhard, vermutlich gibt es zum Aufenthaltsvertrag von 1954 weltweit nichts Vergleichbares. (In diesem Vertrag wurde eine Obergrenze für die Stationierung von Streitkräften aus Frankreich, Großbritannien und den USA in Deutschland festgelegt. Darin lautet Art. 3 Abs. 1: „Dieser Vertrag tritt außer Kraft mit dem Abschluß einer friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland …“) Der Vertrag gilt bis heute fort, was die Bundestagsjuristen 2024 nochmals bestätigt haben. Unter der Absatzüberschrift „Keine präzise Rechtsgrundlage?“ wiederholt lto.de deren Feststellung: „Da in dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1984 wenig konkrete Normbezüge bezüglich der Rechtsgrundlage hergestellt werden, dürften die Verträge [NATO- und Aufenthaltsvertrag] in ihrer Gesamtschau als Rechtsgrundlage fungieren.“
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