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Repräsentation: Ein Abbild der Gesellschaft? Wie sehr muss der Bundestag das Volk widerspiegeln?

Die Abgeordneten im Bundestag repräsentieren das Volk - zumindest in der Theorie.
Repräsentation

Ein Abbild der Gesellschaft? Wie sehr muss der Bundestag das Volk widerspiegeln?

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    Wer sich von der Politik nicht mehr vertreten fühlt, wendet sich von ihr ab. Wer sich nicht mehr gehört fühlt, schreit bald umso lauter. Wer die Sprache der Abgeordneten nicht mehr versteht, verliert das Vertrauen ins System.

    Sicher, im Vergleich mit anderen Ländern geht es der Demokratie in Deutschland gut. Trotzdem war es um die parlamentarische Demokratie auch hierzulande schon besser bestellt. Das belegen Zahlen: In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2022 gaben über 51 Prozent der Befragten an, mit dem Funktionieren unserer Demokratie wenig bis überhaupt nicht zufrieden zu sein. Nur: Woher kommt diese Unzufriedenheit? Diese Politikverdrossenheit, die immer mehr zunimmt? Ist das Problem die Zusammensetzung unseres Bundestags selbst? Denn ein Querschnitt der Bevölkerung ist er beim besten Willen nicht. Und verliert die Demokratie jene, die sich nicht im Parlament wiederfinden?

    Bundestagsabgeordnete mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen haben dazu ebenso unterschiedliche Meinungen. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, wieso die Repräsentation so wichtig ist. Sie beschreiben, wie die Politik das Erstarken des rechten Randes stoppen könnte und demokratiemüde Menschen wieder begeistert werden sollen. Und über allem steht die Frage: Kann ein Parlament überhaupt repräsentativ sein?

    Landwirt im Bundestag: "Wir brauchen mehr Handwerker"

    Artur Auernhammer ist eine Rarität im Bundestag. Der CSU-Abgeordnete hat im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bundestagsabgeordneten nicht studiert. Auernhammer hat in Ansbach die Hauptschule besucht und dann eine Ausbildung zum Landwirt gemacht. Damit steht er für knapp 50 Prozent der Deutschen, die statt Studienabschluss eine Berufsausbildung haben. Im Bundestag sind die Zahlen völlig andere: Über 86 Prozent der insgesamt 736 Abgeordneten haben einen Hochschulabschluss. In dieser ungleichen Repräsentation der Berufe sieht Auernhammer ein großes Problem. Die Menschen müssen sich und ihre Arbeit vertreten fühlen, argumentiert er: "Das irritiert viele Menschen, wenn sie den Eindruck haben, hier sitzen nur Juristen." Der Franke plädiert für ein gemischteres Parlament. "Wir brauchen mehr Handwerker als Mundwerker, die Bevölkerung muss wissen: Da sitzt einer von uns." Ansonsten leide die Legitimität des Parlaments, was gerade jetzt am Wachsen der politischen Ränder zu erkennen sei. Auernhammer geht es darum, möglichst vielfältige Fähigkeiten im Parlament zu vereinen: "Alle Abgeordneten mit Fachkompetenz sollten auch in den jeweiligen Fachausschüssen sitzen." Auernhammer selbst ist als Landwirt Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft.

    Artur Auernhammer sitzt für die CSU im Bundestag und plädiert für mehr Handwerkerinnen und Handwerker im Parlament.
    Artur Auernhammer sitzt für die CSU im Bundestag und plädiert für mehr Handwerkerinnen und Handwerker im Parlament. Foto: Tobias Koch

    Erste schwarze Frau im Parlament: "Es fehlen die Perspektiven"

    Awet Tesfaiesus entspricht dem klassischen Klischee auf der einen Seite, auf der anderen aber auch nicht. Denn sie hat Jura studiert. Seit 2021 sitzt sie für die Grünen im Bundestag, ist im heutigen Eritrea geboren und damit die erste schwarze Frau im Parlament. Tesfaiesus spricht sich besonders bei Herkunft und Geschlecht für mehr Vielfalt aus, weil Anliegen von Minderheiten im Parlament sonst zu kurz kämen: "Durch die einseitige Repräsentation schließen wir große Teile unserer Gesellschaft aus und werden auch von ihnen ausgeschlossen. Besonders fällt mir das bei Jugendlichen mit Migrationsgeschichte auf, wir erreichen sie oft nicht – das ist ein klares Demokratieproblem." Die hessische Abgeordnete sieht sich als Vertreterin des gesamten Volkes, plädiert aber trotzdem für eine breitere Auslegung des Repräsentationsverständnisses: "Ich mache oft die Erfahrung, dass meine Perspektiven fehlen, besonders als schwarze Frau: Wenn ich bestimmte Dinge nicht sage und anspreche, macht es niemand sonst."

    Awet Tesfaiesus ist Juristin und als erste Schwarze Frau für die Grünen im Bundestag. Sie will ein vielfältigeres Parlament.
    Awet Tesfaiesus ist Juristin und als erste Schwarze Frau für die Grünen im Bundestag. Sie will ein vielfältigeres Parlament. Foto: Stefan Kaminski

    Wenn die Legitimität schwindet, steigt bei den Menschen die Aggressivität

    Wie wichtig die Zusammensetzung des Bundestags ist, weiß Werner Patzelt. Er ist Politikwissenschaftler und Experte für Repräsentationsforschung. "Die schwindende Legitimität ist natürlich ein großes Problem. Denn Legitimität sprudelt nicht aus dem juristischen Rahmen, sondern sie braucht den sogenannten Legitimitätsglauben", sagt Patzelt. "Wenn dieser fehlt, steigt die Aggressivität bei den Menschen." Doch der Wissenschaftler ist klar gegen einen Bundestag, der mehr dem Querschnitt unserer Bevölkerung entspricht: "Parlamentarische Repräsentation meint nicht eine repräsentative Stichprobe aus der Bevölkerung." In diesem Sinne könne ein Parlament nie repräsentativ sein. Patzelt, der selbst einmal Mitglied der konservativen und CDU-nahen Werteunion war, geht es nicht um die Frage, welche Menschen mit welchem Lebenslauf im Bundestag sitzen, sondern um die Interessen, für die sie eintreten. "Es gibt eine Vielfalt an Meinungen in der Bevölkerung, die im Idealfall auch im Parlament wiedergegeben werden sollen."

    Mit derzeit 736 Abgeordneten ist der Bundestag das größte frei gewählte Parlament der Welt. Viele Menschen fühlen sich davon nicht mehr vertreten.
    Mit derzeit 736 Abgeordneten ist der Bundestag das größte frei gewählte Parlament der Welt. Viele Menschen fühlen sich davon nicht mehr vertreten. Foto: Kay Nietfeld, dpa
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    zu viele Juristinnen und Juristen im Bundestag?

    Dieser Meinung ist auch Thorsten Frei. Er entspricht dem, woran viele Menschen beim Gedanken an den "klassischen" Abgeordneten zuerst denken. Männlich, Jurist. Der CDU-Politiker ist parlamentarischer Geschäftsführer der Union im Bundestag. Für ihn heißt Repräsentation, alle Belange der Menschen zu behandeln, auch wenn er davon nicht betroffen ist. "Ich glaube, dass etwa Interessen von Männern von Frauen und Interessen von Frauen auch von Männern vertreten werden können." Dem Vorwurf, es gebe zu viele Juristinnen und Juristen in der Politik, entgegnet er, dass das Studium gute Voraussetzungen biete, um Gesetze zu machen. Frei ist der Meinung, dass Politikerinnen und Politiker Erfahrung brauchen. "Wenn man mit Blick auf das Repräsentationsprinzip sagt, wir brauchen so viele Menschen unter 30 im Parlament wie in der Bevölkerung, dann überzeugt mich das nicht", sagt der Christdemokrat. "Es geht um einen gewissen Erfahrungshorizont, den man braucht." Im Gegensatz zu seinem Unionskollegen Auernhammer ist Frei nicht der Meinung, die eigene berufliche Kompetenz müsse automatisch auch dem Amt im Bundestag entsprechen. "Ein Arzt muss nicht automatisch Gesundheitspolitik machen." Besonders für das Vertrauen der Menschen "muss man aber trotzdem schauen, dass im Parlament nicht nur eine spezifische Gruppe sitzt. Daher ist gut, dass es so vielfältige Persönlichkeiten und Berufe im Bundestag gibt."

    Thorsten Frei ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Union im Bundestag. Er ist der Meinung, auch Männer können sich etwa für die Interessen von Frauen einsetzen.
    Thorsten Frei ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Union im Bundestag. Er ist der Meinung, auch Männer können sich etwa für die Interessen von Frauen einsetzen. Foto: Tobias Koch

    Der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern könnte das Vertrauen in die Politik stärken

    Wie also dem Vertrauens- und Legitimitätsverlust begegnen? Trotz unterschiedlicher Auffassungen, wie ein Parlament aussehen soll, sind sich die Abgeordneten im Gespräch bei einer Sache einig: Ganz egal, wie gut Politik ist – was zählt ist, wie sie bei den Menschen ankommt. Das weiß auch Kevin Kühnert: „Unabhängig von Lebensläufen und persönlichen Merkmalen von Politikern ist und bleibt für die meisten Menschen die wichtigste Frage: Finde ich mich in deren konkreter Politik wieder?“ Der SPD-Generalsekretär ist Studienabbrecher und homosexuell, vertritt damit gleich zwei unterrepräsentierte Gruppen im Parlament. Ihm geht es um die Wahrnehmung: „Wichtig ist, wie wir unsere Politik entwickeln und vermitteln. Es geht um Empathie, Respekt im Miteinander und eine Sprache, die die Teilhabe an politischen Prozessen wirklich ermöglicht. Jede Form des Dünkelns verbietet sich, wenn unsere Demokratie inklusiv sein soll.“

    SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wünscht sich eine inklusivere Demokratie
    SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wünscht sich eine inklusivere Demokratie Foto: Tobias von Den Berge

    Politikexperte Werner Patzelt weiß, wie wichtig die subjektive Wahrnehmung bei der Zufriedenheit mit unseren Politikerinnen und Politikern ist: "Das Gefühl, ob gut oder schlecht regiert wird, hängt eng mit dem Gefühl zusammen, ob man gut oder schlecht repräsentiert wird." Bei der steigenden Unzufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland plädiert er dafür zu differenzieren: "Umfragen zeigen zweierlei: Die Menschen machen einen Unterschied zwischen Parlamentariern, die sie kennen, und den Parlamentariern im Allgemeinen. Letztere Gruppe hat generell einen schlechten Ruf und genießt immer weniger Vertrauen, während den Abgeordneten, die die Menschen persönlich kennen, eher noch mehr Sympathien zukommen."

    Diese Erfahrungen macht Artur Auernhammer von der CSU regelmäßig. Ihm werde zu Beginn eines Gesprächs mit frustrierten Bürgern häufig vorgeworfen, dass "ihr in Berlin in der Politik alles falsch macht", sagt der Abgeordnete. Unterhaltungen wie diese sind es seiner Meinung aber auch, die das Vertrauen in die Politik wieder stärken können. "Die Menschen klagen erst mal sehr pauschal an, aber dann kommen wir ins Gespräch und wenn wir uns länger unterhalten, finden wir oft Gemeinsamkeiten." Der Unionspolitiker wirbt außerdem dafür, Politik außerhalb der Partei zu stärken. "Ich selbst bin erst spät zur CSU gekommen und damals in den Kreistag gewählt worden, weil ich in der Region bekannt, nicht weil ich in der Partei war." Auernhammer will, dass lokal vernetzte Menschen ohne Parteibuch mehr von der Politik gesehen und eingebunden werden.

    Awet Tesfaiesus von den Grünen sieht in den unterschiedlichen Perspektiven eines diversen Parlaments die größten Chancen, wieder mehr Menschen für die Demokratie zu begeistern. "Jugendliche der vierten Einwanderungsgeneration empfinden sich oft nicht als deutsch, weil sie sich nicht gesehen und gehört fühlen", sagt Tesfaiesus. "Wir müssen ihre Themen einnehmen." Die Juristin spricht sich obendrein dafür aus, die Menschen mit Argumenten zu überzeugen.

    Lagerist im Bundestag: "Vielfalt ist Chance für die Zukunft"

    Für CDU-Geschäftsführer Thorsten Frei ist vor allem sachlich gute Arbeit die beste Möglichkeit, abgehängte Menschen wieder abzuholen. "Wir müssen politische Alternativen deutlich machen, respektvoll miteinander umgehen und die Ängste der Menschen ernst nehmen und thematisieren", sagt Frei. "Es ist wichtig, den Menschen aufs Maul zu schauen, aber ihnen nicht nach dem Mund zu reden." Er verweist darauf, dass direkte Gespräche in so einem großen Land nur in einem kleinen Maße helfen können: "Politik wird zum großen Teil über Medien vermittelt, deshalb brauchen wir besonders dort die richtige Übersetzungsarbeit, um mit unseren Vorschlägen auch verstanden zu werden."

    SPD-Bundestagsabgeordneter Manuel Gava plädiert für mehr Vorbildcharakter im Bundestag.
    SPD-Bundestagsabgeordneter Manuel Gava plädiert für mehr Vorbildcharakter im Bundestag. Foto: Photothek (Archivbild)

    Besonders langfristig für die Demokratie und für das Vertrauen in politische Vertreterinnen und Vertreter werben will Manuel Gava. Er ist seit dieser Legislaturperiode für die SPD im Bundestag. Der gebürtige Italiener ist Lagerist mit einem Hauptschulabschluss und will vor allem Kindern und Jugendlichen zeigen, dass es sich auch ohne Studium oder Abitur lohnt, in der Politik engagiert zu sein. "Ich erlebe in Hauptschulen, dass die Kinder überrascht sind, wenn ich ihnen erzähle, dass auch ich hier war und jetzt im Bundestag sitze." Die jungen Menschen können sich dann identifizieren. Diese Vorbilder brauche es für die Akzeptanz von Politik. "Wir müssen Vielfalt als eine Chance für die Zukunft sehen, als Investition, dass wir als Politik weiterhin attraktiv für die Menschen bleiben. Denn die Gesellschaft wird immer diverser, in ganz unterschiedlicher Hinsicht."

    (Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version des Artikels war davon die Rede, dass Awet Tesfaiesus sagte, fachlich auch mit AfD-Wählern zu sprechen. Das war inkorrekt.)

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