Wieder erklang „Freude, schöner Götterfunken“, die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, in einer Frühlingsnacht in Paris – genau wie vor fünf Jahren. Wieder hatte Emmanuel Macron die Europa-Hymne als Hintergrund-Musik für seinen ersten Auftritt nach seiner Wahl gewählt – wie schon 2017, als er am Abend seines Sieges vor den Louvre schritt, um zu seinen enthusiastischen Anhängern zu sprechen. Anders als damals lud er diese nicht vor die Glaspyramide des berühmten Museums ein, um seinen Triumph zu feiern, sondern auf das Marsfeld, den begrünten Platz unter dem Eiffelturm. Auch war er diesmal nicht alleine, sondern ging an der Hand seiner Frau Brigitte und umgeben von Kindern und Jugendlichen. Dies war das Symbol dafür, dass Macron die junge Generation in seiner nächsten Amtszeit in den Mittelpunkt stellen will, so wie er es am Ende des einzigen TV-Duells gegen seine Herausforderin Marine Le Pen versprochen hatte.
Für Macron war es nicht so einfach wie vor fünf Jahren
Und eine zweite Amtszeit wird es geben, nachdem der 44-Jährige am Sonntag in der Stichwahl mit rund 58 Prozent gegen Le Pen gewonnen hat. Schnell kam er in seiner Rede auf all jene zu sprechen, die nicht aus Überzeugung für ihn stimmten, sondern um eine Rechtsextreme an der Macht zu verhindern. „Ich will Ihnen hier danken und sagen, dass ich mir dessen bewusst bin und dass mich dies für die nächsten fünf Jahre verpflichtet“, rief Macron.
Er war erkennbar darum bemüht, keine triumphierende Haltung einzunehmen, aus seinen Fehlern zu lernen, alle mitzunehmen. „Ab jetzt bin ich nicht mehr der Kandidat eines Lagers, sondern der Präsident aller“, sagte er – und schloss auch diejenigen mit ein, die Le Pen ihre Stimme gegeben haben. Die Wut, die die Menschen dazu gebracht hätten, rechtsextrem zu wählen, brauche eine Antwort, so Macron – „das wird die Verantwortung von mir und all derer, die mich umgeben, sein“. Bei seinem Projekt, das er „humanistisch, ehrgeizig für die Unabhängigkeit unseres Landes und Europas“ nannte, das ein „soziales und ökologisches Projekt“ sei, handele es sich nicht einfach um die Fortführung der abgelaufenen fünfjährigen Amtszeit. Der alte und neue Präsident versprach eine „andere Methode im Dienst unseres Landes, unserer Jugend“. Die letzten Worte gingen im Jubel unter.
„Und eins – und zwei – und fünf Jahre mehr!“, skandierten seine Anhänger einen Slogan, der in den vergangenen Wochen zu einer Art Wahlkampf-Schlager im Lager des Präsidenten geworden war. Hatte Macron stets als Favorit gegolten, so wuchs die Unsicherheit vor allem seit der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen. Nachdem der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon 22 Prozent erhalten hatte, begann der Kampf um die Gunst von dessen Wählerschaft. Mélenchon appellierte zwar an diese, „keine einzige Stimme für Madame Le Pen“ zu geben, rief aber auch nicht konkret zur Wahl Macrons auf. Etliche seiner Anhänger gaben deshalb wohl einen leeren Zettel ab oder blieben den Wahlbüros ganz fern. Das könnte die Stimmenthaltung von 28 Prozent mit begründen – sie lag so hoch wie seit 1969 nicht mehr.
Mélenchon sagte noch am Wahlabend, Macron sei „der am schlechtesten gewählte Präsident der Fünften Republik“, dessen „Präsidial-Monarchie“ nur mangels besserer Alternativen überlebe. „Die dritte Wahlrunde beginnt heute Abend“, verkündete Mélenchon mit Blick auf die Parlamentswahlen im Juni: Wenn die Linksanhänger sich massiv daran beteiligten, könne er Macrons Premierminister werden und dessen Politik entscheidend mitbestimmen.
In dessen Lager dachte man an diesem Abend noch nicht an solche Wahl-Rechnereien, sondern jubelte über einen Sieg, der weniger eindeutig erschien wie noch vor fünf Jahren, als Macron mit 66 Prozent der Stimmen über Le Pen triumphiert hatte. Die Rechtsextreme, die zum dritten Mal in Folge angetreten war, hatte ihre Stimmanteile kontinuierlich ausbauen können. Die 53-Jährige selbst bezeichnete ihre Niederlage gestern Abend als „durchschlagenden Sieg“: „Millionen unserer Mitbürger haben sich für das nationale Lager und einen Wechsel entschieden“, so Le Pen mit entschlossenem Tonfall. Sie sei bereits tausendmal von ihren Gegnern politisch beerdigt wurden – die Geschichte habe diesen stets Unrecht gegeben. „Dieses Ergebnis bezeugt den französischen wie den europäischen Machthabern das große Misstrauen des französischen Volks ihnen gegenüber, das sie nicht ignorieren können“, sagte Le Pen, die versprach, sich weiterhin mit voller Energie politisch zu engagieren. Ihre rechte Hand, der vorübergehende Parteivorsitzende Jordan Bardella, schloss nicht aus, dass seine Chefin bei den Parlamentswahlen im Juni kandidieren werde.
Marine Le Pen hat ihrer Partei einen Wandel verordnet
Seit Jahren hat sie viel Energie in einen Imagewandel der Partei verwendet, den sie 2018 von Front National in Rassemblement National („nationaler Zusammenschluss“) umbenannt hat. Dies war ein weiterer Schritt, um sich von ihrem Vater abzugrenzen, dem Parteigründer Jean-Marie Le Pen, der mehrmals wegen rassistischen oder den Holocaust verharmlosenden Aussagen verurteilt worden ist.
Diese bewusste Verharmlosung ist eine der Erklärungen für Le Pens Erfolg. Im Wahlkampf nutzte ihr auch die Kandidatur des ultrarechten Meinungsjournalisten Éric Zemmour, der zwar erst eine gefährliche Konkurrenz für sie bedeutete, neben dessen extremen Thesen sie aber plötzlich weniger extrem erschien. Unter anderem warnte Zemmour vor einem fortschreitenden „Bevölkerungsaustausch“ der weißen, christlichen „Rasse“ durch Muslime und Afrikaner.
Am Programm änderte Le Pen dabei im Vergleich zu jenem des früheren Front National wenig. Es fußt weiterhin auf dem Ausschluss von Ausländern und dem Stopp der Zuwanderung und vermittelt eine Weltsicht, die dem Politologen Jean Guarrigues zufolge als rechtsextrem definiert werden kann. „Vor allem das Konzept der nationalen Priorität oder Änderungen der Verfassung, um Elemente des Ausschlusses bestimmter Gruppen einzufügen“, seien „Kennzeichen der Rechtsextremen“. Sie kündigte an, illegale Zuwanderung hart zu bekämpfen und auch legale Einwanderungswege wie den Familiennachzug weitgehend zu stoppen.
Ihre Versprechen „den Franzosen ihr Land zurückzugeben“, kamen vor allem bei Menschen an, die einen niedrigen sozialen Status haben und in benachteiligten, ländlichen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit leben. Dort inszenierte sich Le Pen als die Einzige, die das „Volk“ verstehe und dem Land seine „Souveränität“ zurückgebe. Und dort glaubten ihr viele.
Le Pen sieht in Putin einen Alliierten in der Zukunft
Einen Austritt aus der Europäischen Union forderte sie anders als früher nicht mehr, wollte diese aber ersetzen mit einer losen „Allianz souveräner Nationen“. Ungarn und Polen, die unter anderem aufgrund des Vorwurfs fehlender Rechtsstaatlichkeit im Konflikt mit der EU-Kommission und den meisten anderen Mitgliedstaaten stehen, dienten ihr als Vorbilder, auch bei der Forderung, nationales Recht habe über europäischem zu stehen.
Vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, den sie zuvor öffentlich bewundert hatte, sich Le Pen zwar bei Beginn von dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sie bezeichnete den Kreml-Chef aber weiterhin als möglichen Alliierten in der Zukunft und blieb bei ihrer Forderung, Frankreich solle aus den militärischen Kommandostrukturen der Nato austreten und alle gemeinsamen Verteidigungsprojekte mit Deutschland auf Eis legen.
Allein Le Pens Qualifizierung in die zweite Runde bedeutete zugleich das Scheitern von einem wesentlichen Versprechen Macrons
Aufgrund dieser Positionen hatten nicht nur etliche französische Politiker verschiedener Couleur zur Wahl des überzeugten Pro-Europäers Macron aufgerufen, um Le Pen und damit eine dramatische Kehrtwende zu verhindern, die das Land international und innerhalb Europas isoliert hätte. In einem ungewöhnlichen Schritt verliehen auch die Regierungschefs von Deutschland, Spanien und Portugal, Olaf Scholz, Pedro Sánchez und António Costa, in einem Gastbeitrag für die Zeitung „Le Monde“ ihrer Beunruhigung Ausdruck: „Es ist die Wahl zwischen einem demokratischen Kandidaten, der weiß, dass Frankreichs Stärke in einer mächtigen und unabhängigen Europäischen Union zunimmt – und einer Kandidatin der extremen Rechten, die sich offen mit denen solidarisiert, die unsere Freiheit und Demokratie angreifen.“
Allein Le Pens Qualifizierung in die zweite Runde bedeutete zugleich das Scheitern von einem wesentlichen Versprechen Macrons am Abend seiner Wahl im Jahr 2017. „Ich werde alles tun in den kommenden fünf Jahren, damit es keinen einzigen Grund mehr gibt, für die Extremen zu stimmen“, sagte er bei seiner ersten Rede vor dem Louvre.
Schon damals wollte er diese eigentlich auf dem Platz unter dem Eiffelturm in Paris abhalten, doch das Rathaus hatte dies nicht erlaubt. Anders als in diesem Jahr, wo sein Team diesen symbolträchtigen Ort für den Sonntagabend reservierte – in der Hoffnung, er werde dort die Ansprache als Sieger abhalten. Sein Team wurde nicht enttäuscht.