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Rente: Experte befürchtet: Rente mit 63 ist verfassungswidrig

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Experte befürchtet: Rente mit 63 ist verfassungswidrig

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    Das Rentenpaket ist da – und erweist sich als Überraschungspaket, selbst für SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles. Denn es könnte wegen seiner Ausnahmeregelungen ein Fall für die Gerichte werden.
    Das Rentenpaket ist da – und erweist sich als Überraschungspaket, selbst für SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles. Denn es könnte wegen seiner Ausnahmeregelungen ein Fall für die Gerichte werden. Foto: Michael Gottschalk, Getty Images

    Über einen Mangel an Arbeit können sich die Sozialgerichte in Deutschland nicht beklagen. Im Gegenteil, seitdem die damalige rot-grüne Bundesregierung zwischen 2003 und 2005 die sogenannten Hartz-Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes beschloss, ersticken die Gerichte geradezu in Verfahren. Gingen beim Berliner Sozialgericht, dem größten der Bundesrepublik, 2004 gerade einmal 17 500 Anträge ein, stieg die Zahl Jahr für Jahr kontinuierlich an und erreichte 2012 ihren Höhepunkt mit über 44000. „Die Klagen erreichen uns im Zwölf-Minuten-Takt“, klagt Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma, „jeden Monat kommen 3500 hinzu.“

    In fast zwei Drittel aller Verfahren geht es um Hartz IV, nur zehn Prozent der Verfahren beim Berliner Sozialgericht beschäftigen sich mit Problemen der Rentenversicherung. Doch das könnte sich bald schon schlagartig ändern, glaubt der Rentenexperte der Grünen, Markus Kurth. Das von der Großen Koalition verabschiedete Rentenpaket, das seit 1. Juli in Kraft ist, werde in Kürze die Sozialgerichte beschäftigen. Und möglicherweise am Ende sogar das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

    Zweifel an der Ausnahmeregelung

    Denn nach einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, das Kurth in Auftrag gegeben hat und über das die Süddeutsche Zeitung berichtet, sind die im Gesetzgebungsverfahren in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen bei der abschlagsfreien Rente mit 63 nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

    Es ist ein winziges Detail, das den Juristen des Bundestags „schwerwiegende Bedenken“ bereitet: die Ausnahme von der Ausnahme. Im ursprünglichen Gesetzentwurf von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles war vorgesehen, dass jeder Beschäftigte mit 63 Jahren Anspruch auf eine Rente ohne Abschläge hat, wenn er auf 45 Beitragsjahre kommt. Dabei sollten auch Zeiten anerkannt werden, in denen er Arbeitslosengeld I bezog. Dieses wird maximal 24 Monate gezahlt. Auf Druck des Wirtschaftsflügels der Union wurde diese Regelung allerdings geändert.

    Um eine Welle von Frühverrentungen mit 61 Jahren zu verhindern, werden in den letzten beiden Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn die Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Bezugs von Arbeitslosengeld I nicht angerechnet. Aber: Wird die Arbeitslosigkeit in diesen entscheidenden zwei Jahren zwischen dem 61. und 63. Lebensjahr durch eine Insolvenz oder die vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht, wird diese Phase bei den 45 Beitragsjahren doch angerechnet, nicht jedoch, wenn dem Arbeitnehmer lediglich aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde.

    "Stümperei" - Grüne kritisieren das Rentenpaket von Schwarz-Rot

    Genau diese Regelung dürfte nach Ansicht des wissenschaftlichen Dienstes „gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz“ aus Artikel drei des Grundgesetzes verstoßen. Es sei „nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolgedessen unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzwürdig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers ausscheiden“.

    Mehr noch, so die Gutachter, die in dem Gesetz vorgenommene Unterscheidung sei „beliebig“. Dies würde besonders in dem Fall deutlich, wenn ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter aus betriebsbedingten Gründen kündige, um eine drohende Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe aus wirtschaftlichen Gründen abzuwenden. Hier „hinge es nur vom Zufall ab“, aus welchem Grund ein Beschäftigter arbeitslos werde.

    Die Grünen fühlen sich durch das Gutachten in ihrer Kritik an dem Gesetz der Großen Koalition bestätigt. Die von der Wirtschaft vorgetragene „Panikmache“ vor einer Frühverrentungswelle mit 61 habe „zu blindem Aktionismus und Stümperei“ geführt, sagt Rentenexperte Markus Kurth. Der zweijährige Ausschluss bei der Anrechnung auf die Beitragsjahre sei eine Reaktion auf ein „Scheinproblem“, die Regierung müsse die Sonderregelung ersatzlos streichen. Besonders pikant: Im Rahmen der Ressortabstimmung hatten das Innen-, das Justiz- und das Arbeitsministerium auf die verfassungsrechtlichen Risiken der Regelung hingewiesen. Die Sonderregelung würde auch Menschen treffen, „bei denen kein Mitnahmeeffekt“ und kein „versicherungswidriges Verhalten“ vorliege.

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