Es gab Jahre, da hätten die Europäer in schweren, ungewissen Zeiten wie diesen Nachtschichten eingeschoben. Die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel etwa war berüchtigt für Marathonsitzungen bei EU-Gipfeln, in denen sie ihre übermüdeten Kollegen frühmorgens zum Konsens zwang. Seit vergangener Woche ist wieder Großkrise in der Gemeinschaft. Mit Donald Trump hat ein Kandidat die US-Wahlen gewonnen, der die lange sicher geglaubte transatlantische Partnerschaft infrage stellt. Hinter den Kulissen der EU herrschen deshalb Aufregung, Panik und fast schon ein Gefühl von Hilflosigkeit.
Sollte Trump tatsächlich neue Zölle von zehn bis 20 Prozent für Importe aus dem Ausland verhängen, wäre das eine Katastrophe für die ohnehin angeschlagene Wirtschaft in der Union. Neben einem drohenden Handelskrieg schwebt das Horrorszenario wie ein Damoklesschwert über Brüssel, nach dem Trump die amerikanische Unterstützung für die Ukraine stoppen könnte. Leidtragende wären die Ukraine und in der Konsequenz ganz Europa. Dass dann auch noch die deutsche Ampelkoalition zerbrach, ging im Getöse fast unter. Wer angesichts der Herausforderungen aber Nachtschichten der Spitzenpolitiker vermutete, wurde enttäuscht. Denn der aktuelle Bundeskanzler heißt Olaf Scholz und hat es nicht so mit nächtlichen Sitzungen. Fraglich ist ohnehin, ob er aktuell Fragen zum weiteren Vorgehen der deutschen Politik überhaupt beantworten könne.
Zwischen Ende der Ampel und Vertrauensfrage: Olaf Scholz gilt als „lame duck“
Überhaupt gilt die Frage fast schon als beantwortet, ob die politische Krise in Berlin eine Lähmung der EU auslösen würde. Denn machte es überhaupt einen Unterschied, ob der Kanzler auf Abruf noch über Entscheidungsgewalt verfügen würde? „Nur wenige werden sie vermissen”, urteilte eine dänische Zeitung über die Bundesregierung. Während Europas Staats- und Regierungschefs die Krise in Berlin zwar herunterspielten, solange ein Mikro vor ihrer Nase hing, äußerten zahlreiche Diplomaten hinter den Kulissen die Hoffnung, dass es in Deutschland nun rasch zu Neuwahlen kommt. Nicht nur gelten die Beziehungen des mächtigsten Mitgliedstaates zu den anderen Schwergewichten Frankreich und Polen mindestens als belastet, wenn nicht sogar zerrüttet. Scholz habe auch nie eine Führungsrolle auf EU-Ebene übernommen und Europathemen nachrangig behandelt, kritisierte ein EU-Beamter scharf. Die Streitigkeiten innerhalb der Ampelkoalition hätten zudem die Gemeinschaft ausgebremst oder schlimmer noch in Form der berüchtigten Enthaltungen der Deutschen zu Blockaden geführt.
Die geschwächte Position der Bundesrepublik wiegt in diesen Zeiten von Krieg, Krisen und Konflikten umso schwerer, weil mit Emmanuel Macron auch in Frankreich ein Präsident ohne Autorität regiert, nachdem er im Sommer vorgezogene Parlamentswahlen ausgerufen und verloren hatte. Der traditionelle Motor der EU stottert nicht mehr nur, er fällt gänzlich aus, weil die beiden als „lahme Enten“ geltenden Chefs aus Berlin und Paris „ohne Budget und ohne Mehrheit“, wie es ein Diplomat nannte, mit innenpolitischen Dramen beschäftigt sind. Das verhilft nicht nur den Orbáns dieser Welt zu einer stärkeren Stimme, sondern dürfte insbesondere Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni mehr Möglichkeiten verschaffen, den politischen Ton in der Gemeinschaft anzugeben und das Machtvakuum auszufüllen. Neben Ungarns rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orbán steht die Postfaschistin den US-Republikanern wohl am nächsten.
Rafft sich die Europäische Union auf?
Dabei bietet Trumps Rückkehr den Europäern eine Chance, vielleicht ist es die letzte. Nachdem sich die Gemeinschaft jahrelang selbstzufrieden zurücklehnte und wertvolle Zeit verstreichen ließ, in denen sie die Möglichkeit gehabt hätte, sich vorzubereiten, sich wirtschaftlich unabhängiger und wettbewerbsfähiger zu machen, sich in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit autonomer aufzustellen, hat sie nun eigentlich keine Wahl mehr. Vielmehr müssten die europäischen Spitzen geeint auftreten und statt der üblichen Sonntagsreden politisch mutige sowie kostspielige Entscheidungen treffen, um ihre Verteidigungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Ob es so weit kommt, ist fraglich. Europa ist aktuell zu schwach aufgestellt für Visionen und Fortschritt. Durch die globalen Herausforderungen bräuchte es dringend politische Führung und große Ideen, damit die Zentrifugalkräfte nicht weiter wirken können.
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