EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer jährlichen Rede zur Lage der Europäischen Union für eine zielstrebige Aufnahme weiterer Staaten geworben. "In einer Welt, in der einige versuchen, sich andere Länder nach und nach unter den Nagel zu reißen, können wir es uns nicht leisten, unsere europäischen Freunde im Stich zu lassen", sagte sie mit Blick auf Beitrittskandidaten wie die Ukraine oder die Westbalkanländer. "In einer Welt, in der Größe und Gewicht zählen, liegt es ganz klar im strategischen und sicherheitspolitischen Interesse Europas, die Union zu vollenden."
Um die derzeit 27 Staaten starke EU auf die Aufnahme neuer Mitglieder vorzubereiten, kündigte von der Leyen ein neues Analyseprojekt an. Bei ihm soll geprüft werden, wie einzelnen EU-Politikbereiche möglicherweise an eine größere Union angepasst werden müssen. "Wir werden uns überlegen müssen, wie unsere Institutionen funktionieren würden - wie das Parlament und die Kommission aussehen würden", sagte sie. Zudem gelte es auch über die Zukunft des Haushalts zu sprechen - also darüber, was daraus bezahlt werde und wie er finanziert werde.
Von der Leyen: "vollendete Union mit über 500 Millionen Menschen"
Letzteres Thema gilt besonders mit Blick auf eine mögliche Aufnahme der Ukraine als relevant, da das kriegsgeplagte Land vergleichsweise groß ist und vermutlich auf nicht absehbare Zeit Zuschüsse erhalten müsste. Zudem würde die riesige Landwirtschaft eine umfangreiche Reform der EU-Agrarförderungen notwendig machen.
Von der Leyen sagte: "Die gute Nachricht lautet, dass sich bei jeder Erweiterung die Behauptung, wir würden dadurch weniger effizient, als Irrtum erwiesen hat." Seit der letzten großen Erweiterung vor zwei Jahrzehnten habe man eine wirtschaftliche Erfolgsstory erlebt, die das Leben von Millionen Menschen verbessert habe. "Ich möchte, dass wir uns auf die nächste europäische Willkommensfeier und die nächsten wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten freuen", sagte sie. Ziel müsse eine "vollendete Union mit über 500 Millionen Menschen" sein, die in einer freien, demokratischen und blühenden Gemeinschaft lebten.
EU führte zuletzt Beitrittsverhandlungen mit mehreren Staaten
Welche Länder sie für besonders aussichtsreiche Kandidaten für einen Beitritt hält und ob sie wie EU-Ratspräsident Charles Michel erste Neuaufnahmen ab 2030 will, sagte von der Leyen nicht. Beitrittsverhandlungen führte die EU zuletzt mit den Balkanstaaten Montenegro, Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien. Zudem sind auch das Kosovo sowie die Ukraine, Moldau, Georgien und die Türkei Bewerberländer. Mit der Türkei gab es bereits lange Beitrittsverhandlungen, sie liegen allerdings seit Jahren wegen rechtsstaatlicher Defizite auf Eis.
Wie die entscheidenden Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten von der Leyens Rede sehen, wird sich vermutlich bereits in wenigen Wochen zeigen. Das Thema Erweiterung soll unter anderem bei einem informellen EU-Gipfel Anfang Oktober in der spanischen Stadt Granada diskutiert werden. Im Dezember soll entschieden werden, ob mit der Ukraine und Moldau Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden und ob Georgien den Status des Beitrittskandidaten bekommt.
E-Auto-Preis werde "durch riesige staatliche Subventionen künstlich gedrückt"
Von der Leyen kündigte bei ihrer Rede zudem eine Untersuchung wegen staatlicher Unterstützung für Elektroautos aus China an. "Der Preis dieser Autos wird durch riesige staatliche Subventionen künstlich gedrückt - das verzerrt unseren Markt", sagte sie. Das sei nicht akzeptabel. Die Weltmärkte würden von billigeren chinesischen Elektroautos überschwemmt.
Eine Antisubventionsuntersuchung kann dazu führen, dass beispielsweise Strafzölle erhoben werden. Derzeit laufen in mehreren Wirtschaftsbereichen Maßnahmen, um die Abhängigkeit der EU von Staaten wie China zu verringern und heimische Unternehmen zu schützen. Im März hatte die EU-Kommission etwa einen Vorschlag für ein Gesetz zur Rohstoffversorgung vorgestellt. Damit soll sichergestellt werden, dass die EU bei wichtigen Rohstoffen nicht von Importen aus einzelnen Ländern wie China abhängig bleibt.
Von der Leyen: "Müssen uns gegen unfaire Praktiken wehren"
Europa sei offen für Wettbewerb, aber nicht für einen ungleichen Unterbietungswettlauf, sagte von der Leyen. "Wir müssen uns gegen unfaire Praktiken wehren."
Zugleich betonte sie, es sei unabdingbar, mit China im Dialog zu bleiben. Es gebe Themen, bei denen man zusammenarbeiten müsse. Sie werde bei einem geplanten EU-China-Gipfel in diesem Jahr den Standpunkt vertreten, man solle Risiken minimieren, sich aber nicht abkoppeln. (dpa)