Die Eindrücke dieser Woche stehen ihm noch ins Gesicht geschrieben. Erst wenige Tage ist es her, dass er mit einem halben Dutzend Frauen und ein paar Männern für geschlagene 90 Minuten in einem Luftschutzkeller in der Stadt Korjukiwka festsaß und den Geschichten, die dieser Krieg in der Ukraine mit sich bringt, nicht entkommen konnte, die Gedanken keine Fluchttür fanden. Dass er hautnah mit Tod und Elend konfrontiert war und aus den Darstellern vieler Nachrichten echte Menschen mit all ihrem Schmerz wurden.
Und so steht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Freitagvormittag im prunkvollen Schloss Bellevue und erzählt von der ukrainischen Frau, die die Frage ihres Enkels beantworten musste: Oma, müssen wir jetzt sterben? 45 Minuten spricht Steinmeier vor Gästen aus Politik und Gesellschaft, es ist eine Grundsatzrede, in der er das Volk auf schwierige Zeiten einstimmte, aber auch seine eigene Rolle in der deutschen Russlandpolitik nicht ausspart.
Es ist aber auch eine Rede, auf die viele in seiner Umgebung lange gewartet hatten. Als zu zögerlich, zu schweigsam war der Bundespräsident in den vergangenen Monaten wahrgenommen worden. Und das in einer Zeit, in der das Land gute Worte dringend nötig hätte. Nun also versucht Steinmeier, die Deutungshoheit über die eigene Präsidentschaft zurückzugewinnen. Jene Präsidentschaft, die mit dem Makel behaftet ist, dass der Amtsinhaber einer der Architekten der gescheiterten deutschen Russlandpolitik ist.
Natürlich, Steinmeier weiß darum. Der 24. Februar, der Tag, an dem Wladimir Putin seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ, ist auch seine persönliche Zeitenwende. "Der 24. Februar war ein Epochenbruch“, sagt er. „Er hat auch uns in Deutschland in eine andere Zeit, in eine überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt: eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausweitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa. Eine Zeit schwerer wirtschaftlicher Verwerfungen, Energiekrise und explodierender Preise.“
Mit deutlichen Worten wirft er Putin imperiale Besessenheit vor und warnt davor, schon heute von einer Rückkehr in eine vermeintliche Normalität zu träumen. Worte, die man in der aktuellen Politik, allen voran aus dem Bundeskanzleramt, schon lange nicht mehr gehört hat, und die doch nur ein Mindestmaß an Selbstkritik sind. Denn eines kommt ihm nicht über die Lippen: ein echtes mea culpa, ein Schuldbekenntnis. "Wir setzten darauf, dass wir von Freunden umgeben und Krieg in Europa unvorstellbar geworden sei“, erklärt der frühere SPD-Außenminister und Kanzleramtschef seine ganz persönlichen Motive für das politische Handeln.
"Freiheit und Demokratie schienen überall auf dem Vormarsch, Handel und Wohlstand in alle Richtungen möglich.“ Putin habe das Spiel beendet, indem er die Regeln gebrochen habe. „Heute sind diese gemeinsamen friedensstiftenden Lehren verblasst“, sagt er. "An die Stelle des Austauschs, der Suche nach Verbindendem tritt mehr und mehr das Ringen um Ideologie und Dominanz.“
Nach Steinmeiers Rede: Geht nun ein Ruck durch Deutschland?
Als Bundespräsident bleiben Steinmeier nicht viel mehr als seine Worte als Instrument, um das Volk einzustimmen. Das haben Steinmeiers Vorgänger eindrucksvoll genutzt. "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, sagte Roman Herzog 1997. Und Christian Wulff 2010: "Der Islam gehört zu Deutschland.“ Joachim Gauck machte das Wort "Freiheit“ zum Leitgedanken seiner Präsidentschaft. Steinmeier hingegen schwieg. Kriegsangst? Inflationssorgen? Im Hintergrund heißt es, Steinmeier habe erst seine Reise nach Kiew abwarten wollen. Nun also der Versuch eines Befreiungsschlages. "Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Es beginnt für Deutschland eine Epoche im Gegenwind“, sagt er.
Das Land könne auch das meistern, doch es brauche Widerstandsgeist und Widerstandskraft. Dazu gehöre zuallererst eine gut ausgestattete Bundeswehr, aber auch die Bereitschaft, in Europa eine Führungsrolle einzunehmen. An die Bundesregierung richtet er daher diesen Appell: "In dem Maße, in dem die Erwartungen an uns wachsen, wird auch die Kritik an uns zunehmen. Damit müssen wir erwachsen umgehen und nicht jede Kritik von außen umgehend als Munition in der innenpolitischen Auseinandersetzung missbrauchen.“
Steinmeier wendet sich aber auch direkt an die Bürgerinnen und Bürger. Die neue Zeit fordere jeden Einzelnen. "Vielleicht konnte man in den Zeiten mit Rückenwind noch durchkommen, ohne sich selbst großartig einzusetzen. Das gilt heute nicht mehr. Deutschland, unser Land, braucht Ihren Willen zur Veränderung, braucht Ihren Einsatz für unser Gemeinwesen, damit wir dort ankommen, wo wir hinwollen.“ Viele Menschen würden ihn fragen, warum Deutschland denn Lasten tragen solle für einen Krieg in einem anderen Land, und ob man die Sanktionen nicht sein lassen könne. Er wolle diese Fragen nicht abtun. "Aber was wäre denn die Alternative? Tatenlos diesem verbrecherischen Angriff zuschauen? Einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen?“
Es sei im deutschen Interesse, sich mit den Partnern Russlands Rechtsbruch entgegenzustemmen. "Es ist unser Interesse, dass wir uns aus Abhängigkeiten von einem Regime lösen, das Panzer rollen lässt gegen ein Nachbarland und Energie als Waffe benutzt. Es ist unser Interesse, uns selbst zu schützen und unsere Verwundbarkeit zu reduzieren.“ Wenn es wieder Frieden gebe, müsse es ein gerechter Friede sein, einer, der nicht auf Kosten der Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer gehe. "Wir wollen in zehn Jahren sagen können: Wir haben diese Gesellschaft zusammengehalten, wir haben die Schwächeren untergehakt und mitgenommen, und die Mehrheit hat ihr Vertrauen in die Demokratie bewahrt“, sagt er.
"Wir wollen in 15 Jahren sagen können: Trotz Krieg und Krise – wir haben sichergestellt, dass auch den nachfolgenden Generationen ein gutes Leben auf unserer Erde möglich ist.“ Um das zu schaffen, müssten die Menschen in den kommenden Jahren Einschränkungen hinnehmen. Und der Staat müsse jenen helfen, deren Leben schon heute von Verzicht geprägt sei. Denn zur Wahrheit gehöre auch: Mit diesem Winter sei es nicht getan, die Veränderung werde langfristig sein.
Steinmeier-Rede: Klimawandel macht keine Pause
Und dennoch dürften über all dem die anderen Probleme nicht vergessen werden. Der Klimawandel etwa mache keine Pause, nur weil gerade ein Krieg tobt. Und auch hier sei die Gemeinschaft, sei jeder Einzelne gefordert. "Wenn wir Emissionen drastisch reduzieren und uns von fossilen Energien lösen wollen, müssen wir manche lieb gewonnene Gewohnheit aufgeben – im Kleinen wie im Großen“, sagt Steinmeier. "Von der Frage, wie – und wie schnell – wir uns fortbewegen und was wir essen, bis hin zur Frage, wie wir bauen und wohnen.“
Doch abgewendet werden könne der Klimawandel nicht von Einzelpersonen allein, es brauche den Zusammenhalt der Staaten. "Deshalb rate ich uns: Verlernen wir nach dem Epochenbruch nicht all das, was deutsche Außenpolitik stark gemacht hat: die europäische Verankerung, das Bemühen um internationale Zusammenarbeit, um gemeinsame Regeln, der Dialog zwischen Verschiedenen und das Werben um Partner, die anders sind als wir.“
Am Ende ruft der Bundespräsident dazu auf, was weder in Entlastungspaketen organisiert noch von der Regierung verordnet werden kann: zum Zusammenhalt in schwierigen Zeiten. "Vertrauen wir einander – und vertrauen wir uns selbst!“, sagt er. "Es kommt nicht darauf an, dass alle dasselbe tun – aber dass wir eines gemeinsam im Sinn haben: alles zu stärken, was uns verbindet! Das ist die Aufgabe. Tun wir’s.“