Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Deutschland für die bisherige Unterstützung im Abwehrkampf gegen die russischen Angreifer gedankt und eindringlich um anhaltenden Beistand gebeten.
"Es ist unser gemeinsames Interesse, dass Putin diesen Krieg persönlich verliert", sagte er in einer Rede im Bundestag. Der russische Präsident Wladimir Putin stehe "alleine gegen uns alle", fügte er hinzu. "Und eben deshalb müssen wir alle gemeinsam Russland dazu zwingen, sich zu ändern. Und das ist möglich, denn es gibt keine Mauern, die nicht fallen."
"Der Diplomatie eine Chance geben"
Selenskyj betonte aber auch, dass er nicht nur auf das Militär setzen will, um zu Frieden in seinem Land zu kommen. Mit Blick auf die Friedenskonferenz in der Schweiz am nächsten Wochenende sagte er: "Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben und haben etwa 100 Staaten versammelt. Die Ukraine hat niemals nur auf die Stärke der Waffen gesetzt."
Russland ist zu der Konferenz allerdings nicht eingeladen, China hat abgesagt. Scholz zeigte sich nach einem Treffen mit Selenskyj trotzdem optimistisch, dass es bei dem Treffen Fortschritte geben kann. "Vielleicht kann ein Weg aufgezeigt werden, wie ein Einstieg in einen Prozess gelingen könnte, bei dem eines Tages auch Russland mit am Tisch sitzt."
Bei erster Selenskyj-Rede war Deutschland noch der Buhmann
Selenskyj hatte bereits am 17. März 2022, drei Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, zu den Bundestagsabgeordneten gesprochen. Damals wurde er aber per Video von Kiew aus in den Plenarsaal zugeschaltet und flehte den Bundeskanzler geradezu um mehr militärische Unterstützung an: "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, reißen Sie diese Mauer nieder. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient."
Keine Forderungen mehr nach Taurus
Inzwischen hat Deutschland unter anderem Kampfpanzer, Luftabwehrsysteme und weitreichende Artillerie geliefert und ist der zweitwichtigste Unterstützer der Ukraine nach den USA, was die militärische und finanzielle Hilfe angeht. Dafür bedankte sich Selenskyj ausdrücklich.
Besonders bedankte er sich bei Kanzler Scholz für die zuletzt zugesagten Patriot-Abwehrsysteme, die Tausende von Leben retten würden. Forderungen nach weiteren Waffensystemen wie etwa nach Taurus-Marschflugkörpern waren von Selenskyj während seines nun schon dritten Berlin-Besuchs seit Kriegsbeginn auch auf Nachfrage in einer Pressekonferenz mit Scholz nicht zu hören.
Minutenlanger stehender Applaus
Im Bundestag wurde der ukrainische Präsident von den Abgeordneten mit langanhaltendem Beifall begrüßt. Er kam an der Seite von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in den Plenarsaal. Auch Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig (SPD) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit seinem Kabinett nahmen an der Sitzung teil. Vor dem Rednerpult, auf den Plätzen der Parlamentsstenografen, lagen drei große Blumengestecke in den ukrainischen Farben blau und gelb.
Der Krieg müsse so beendet werden, dass kein Zweifel bestehe, wer gesiegt habe, sagte Selenskyj, der immer wieder von Beifall unterbrochen wurde. Russland müsse für die Entfesselung des Krieges die volle Verantwortung übernehmen. "Russland muss für den ganzen Schaden zahlen, der durch diese Aggression verursacht wurde." Am Ende applaudierten ihm die Abgeordneten minutenlang stehend.
BSW und fast alle AfD-Abgeordneten boykottieren Selenskyj-Rede
Die Parlamentarier des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) und die AfD bis auf vier Abgeordnete boykottierten die Rede allerdings. "Wir lehnen es ab, einen Redner im Tarnanzug anzuhören", teilten die Fraktionschefs Alice Weidel und Tino Chrupalla mit. "Die Bundesregierung sollte ihm keine Bühne für Wiederaufbaubettelei geben." Vom BSW hieß es: "Präsident Selenskyj trägt leider aktuell dazu bei, eine hochgefährliche Eskalationsspirale zu befördern und nimmt dabei das Risiko eines atomaren Konflikts mit verheerenden Konsequenzen für ganz Europa in Kauf."
Von anderen Parteien und auch von Scholz kam scharfe Kritik an AfD und BSW. Dieses Verhalten sei eine "Respektlosigkeit", sagte ein Regierungssprecher dem ARD-Hauptstadtstudio. Scholz sei darüber "sehr verstört, aber nicht überrascht". SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sagte der "Rheinischen Post": "Wahrscheinlich hat der Kreml das Fernbleiben angeordnet." Er habe selten eine solche Respektlosigkeit erlebt. Unionsfraktionschef Friedrich Merz sprach von einem "Tiefpunkt in der Kultur unseres Parlaments".
60 Länder bei Wiederaufbaukonferenz
Eigentlicher Anlass des Selenskyj-Besuchs ist eine Internationale Wiederaufbaukonferenz mit 2000 Teilnehmern aus 60 Ländern, die er zusammen mit Scholz eröffnete. Beide traten dabei gemeinsam für eine weitere Stärkung der Luftverteidigung zum Schutz vor russischen Angriffen ein. Scholz rief die Verbündeten auf, eine entsprechende deutsche Initiative "mit allem, was möglich ist" zu unterstützen. "Denn: Der beste Wiederaufbau ist der, der gar nicht stattfinden muss."
Selenskyj bekräftigte, dass mindestens sieben weitere Patriot-Systeme nötig seien, um die ukrainischen Städte und Ballungsräume zu schützen. "Luftverteidigung ist die Antwort auf alles", sagte er mit Blick auf die russischen Angriffe mit Gleitbomben, Marschflugkörpern und Drohnen.
Deutschland hat bereits zwei Patriot-Systeme geliefert, ein weiteres ist zugesagt, an ihm werden derzeit ukrainische Soldaten ausgebildet. Italiens Außenminister Antonio Tajani kündigte bei der Konferenz an, dass Italien bereit sei, ein neues Militärpaket mitsamt des Flugabwehrsystems Samp-T an die Ukraine zu schicken.
500 Milliarden US-Dollar in den nächsten 10 Jahren benötigt
Bei der Wiederaufbaukonferenz geht es nicht darum, Geld für den Wiederaufbau zu sammeln, sondern vielmehr um die Vernetzung der relevanten Akteure aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen. Ziel ist es, Initiativen beispielsweise zur Unternehmensförderung oder Fachkräfteausbildung auf den Weg zu bringen.
Scholz stellte der Ukraine weitreichende und langfristige staatliche Zusagen für den Wiederaufbau in Aussicht. Dafür werde er sich auf dem G7-Gipfel der führenden westlichen Wirtschaftsmächte in Italien einsetzen, der am Donnerstag beginnt. Der Kanzler verwies darauf, dass die Weltbank in den kommenden zehn Jahren mit einem Bedarf von 500 Milliarden US-Dollar (464 Milliarden Euro) Wiederaufbauhilfe rechne. Er rief auch private Unternehmen auf, sich mit Investitionen daran zu beteiligen. "Angesichts der Dimension, über die wir hier reden, muss privates Kapital hinzukommen."
(Von Michael Fischer, Carsten Hoffmann, Jörg Blank, Ulrich Steinkohl, Andreas Stein, dpa)