Tausende Menschen, die in Moskau und St. Petersburg gegen den Krieg auf die Straße gehen. Russische Prominente, die öffentlich ihre Stimme gegen Wladimir Putin erheben. Misserfolge an der Front in der Ukraine. Und eine westliche Allianz, die öffentlich als Zeichen der Schwäche des Kremls wertet. Es läuft nicht gut für den russischen Präsidenten. Ist dies womöglich der Anfang vom Ende der Ära Putin?
Experten wie Joachim Krause mahnen zur Vorsicht und warnen vor überzogenen Erwartungen. „Wie fest Putin im Sattel sitzt, kann keiner von außerhalb beurteilen“, sagt der Chef des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. „Nicht einmal CIA und MI6 wagen da eine Prognose.“ Der amerikanische und britische Geheimdienst sind üblicherweise bestens informiert, sie waren im Februar die Ersten, die vor einem Krieg Putins gewarnt hatten. Und doch ist Putins Macht zumindest angekratzt. Denn bei seinem eigenen Volk selbst könnte er in Erklärungsnot geraten. „Fakt ist, dass mit der Ankündigung oder Inaussichtstellung einer Mobilisierung – und die betrifft alle Männer bis etwa 50 – der Krieg plötzlich in die meisten russischen Familien eintritt und dort vielerorts zu Nachdenklichkeit oder auch zu Panik führt“, sagt Krause. „Welche Dynamik das auslöst und ob Putin die Dynamik im Griff behalten kann, ist nicht vorhersehbar – auch nicht für Putin.“
Putins Teilmobilmachung wirft viele Fragen auf
Zumal längst nicht sicher ist, dass Russland den Kriegsverlauf durch die Teilmobilmachung zu seinen Gunsten drehen kann. „Russland wird wahrscheinlich mit zu kämpfen haben, die 300.000 Soldaten auch nur zu mustern“, schreibt das britische Verteidigungsministerium in seinen regelmäßigen Stellungnahmen unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse. Das glaubt auch Sicherheitsexperte Krause. „Die Absetzbewegung junger Männer hat ja schon vor Monaten eingesetzt und dauert an“, sagt er. Rund sechs Millionen Russen hätten das Land seit Februar verlassen, darunter auffallend viele junge Menschen und damit auch Reservisten.
Die nächsten Monate könnten damit entscheidend sein. „Die Ukrainer werden versuchen, bis dahin noch sehr viel Geländegewinne zu machen – und das fürchtet Putin. Daher auch die hastig angesetzten Scheinreferenden, verbunden mit der Androhung des Einsatzes modernster Waffen“, sagt Krause. Hinzu käme, dass sich das nächste Desaster der Russen im Raum Cherson schon ankündige. „Dort stehen über 25.000 russische Soldaten, die vom Nachschub weitgehend abgeschnitten sind und denen irgendwann die Munition und die Lebensmittel ausgehen werden“, sagt der Experte. Zudem machten die ukrainischen Truppen Fortschritte im nördlichen Luhansk.
Die Unterstützung aus China für Russland wird schwächer
Steigen könnte der Druck auf Putin auch in wirtschaftlicher und diplomatischer Hinsicht. Die EU will mit weiteren Sanktionen gegen Russland auf dessen Teilmobilmachung im Krieg gegen die Ukraine reagieren. Zwar konnte Putin durch die hohen Energiepreise große Einnahmen erzeugen, doch die Wirtschaft beginnt zu lahmen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte jüngst, die russische Industrie liege am Boden, Moskau habe im Militärbereich große Schwierigkeiten wegen ausbleibender Lieferungen etwa von Halbleitern. Viele Lücken, die europäische Handelspartner reißen, können von anderen russischen Verbündeten wie China gestopft werden.
Doch durch die Teilmobilmachung wurde deutlich, dass auch Peking kein ganz treuer Partner ist. „Wir fordern alle maßgeblichen Parteien auf, durch Dialog und Konsultationen einen Waffenstillstand zu erreichen“, sagte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin. China braucht Wirtschaftswachstum und keine Kriegsspiele. Und China hält wenig von Drohungen mit Nuklearwaffen. „Präsident Xi Jinping würde es nicht einfach kommentarlos hinnehmen oder gar seine – wenn auch lauwarme – Unterstützung für Putin fortsetzen, wenn Putin jetzt mit Nuklearwaffen operieren würde“, sagt Alexander Graf Lambsdorff, Außenpolitik-Experte der FDP.
Und doch warnt er vor überzogenen Erwartungen an die aktuelle Lageentwicklung. „Das System Putin ist ganz stark auf ihn als Person zugeschnitten“, sagt Lambsdorff. „Er ist umgeben von Menschen, die zumindest nach außen keinerlei Eindruck von Illoyalität erwecken.“ Männer wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu oder auch Ex-Präsident Dmitri Medwedew stehen weiter hinter dem Präsidenten, verstärken seine Drohungen mit markigen Worten. Zudem fehle es an einem möglichen Nachfolger, der nach der Macht greift. Auch deshalb sagt der FDP-Außenpolitik-Experte mit Blick auf die Proteste: „Die Demonstrationen verlangen mir den allerhöchsten Respekt ab – aber sie sind nicht dazu geeignet, das System Putin zu erschüttern.“ Dafür seien sie zu klein und die Demonstranten zu wenig in der Gesellschaft verwurzelt. Dennoch sei es schwierig, in die Zukunft zu blicken. „Man kann in solchen Systemen nicht wissen, ob es noch fünf oder zehn Jahre so weitergeht oder doch morgen schon vorbei ist“, sagt Lambsdorff. „Das ist uneinschätzbar.“