Der Ukas ist schon wenige Minuten, nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin gesprochen hatte, auf der Homepage des Kremls zu finden. 300.000 Reservisten – Soldaten, Offiziere, Fähnriche – sollen für Russland in den Kampf gegen die Ukraine ziehen. Oder gegen den Westen, wie der bald 70-Jährige am Mittwochmorgen sagt – im selben Arbeitszimmer, in dem er auch seine Rede zum 24. Februar aufgenommen hatte und damit die Invasion der Ukraine befahl. Bis heute nennt Putin den Einsatz seiner Armee im Nachbarland „militärische Spezialoperation“ und hält trotz der militärischen Erfolge der Ukraine daran fest. Mit allen Mitteln.
„Das Ziel des kollektiven Westens ist es, unser Land zu schwächen, zu spalten und schließlich zu zerstören. Er will, dass Russland in viele Regionen zerfällt, die sich tödlich bekriegen“, sagt Putin. Der Westen habe die Ukraine zu einem Anti-Russland gemacht, das ihm nun, um Russland auszurauben, als Kanonenfutter diene. Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Frühjahr habe der „kollektive Westen“ sabotiert, damit er weiter Krieg führen könne. Es sind die typischen Putin’schen Narrative, die er bemüht, um das Volk zu mobilisieren. Um die Heimat zu schützen, sei eine Teilmobilmachung vonnöten, erklärt er. Die Reservisten, Russinnen und Russen zwischen 18 und 65 Jahren, die gedient haben und bestimmte Ränge aufweisen, sollen vor allem die „1000 Kilometer lange Kontaktlinie“ sichern.
Nach Teilmobilmachung: Junge Russen wollen aus dem Land ausreisen
Kurz nach seiner Ansprache sind keine Direktflüge mehr nach Jerewan oder Istanbul für den Tag zu bekommen. Vor allem junge Männer wollen weg – wie bereits Anfang März, als eine regelrechte Ausreisewelle aus Russland begann. Der Krieg ist nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Viele russische Familien schauen, wie sie ihre Söhne vor dem Einsatz in der Ukraine retten können, besorgen sich Krankschreibungen, kaufen Bescheinigungen, dass sie kranke Eltern zu versorgen oder Kinder unter 16 Jahren hätten. Der Druck auf die Menschen ist enorm. Schon am Vortag hat die Staatsduma in Blitzverfahren die Strafen für Fahnenflüchtige und alle, die sich dem Militärdienst entziehen - etwa durch den freiwilligen Gang in Kriegsgefangenschaft - deutlich verschärft. Und Putin forderte das Justizministerium auf, es möge eine Aufstellung der Haftplätze abgeben.
Der russische Präsident könnte auch noch das Kriegsrecht verhängen – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg. So weit ist es jetzt noch nicht. Aber eingebrannt hat sich ein Satz Putins vom Juli zum Vorgehen in der Ukraine: „Wir haben noch nichts ernsthaft begonnen.“ Putin wies am Dienstag auch die Rüstungsindustrie an, die Waffenproduktion hochzufahren. Selbst Rentner werden mobilisiert für den Mehrschichtbetrieb. Und Verteidigungsminister Sergej Schoigu meinte auch, dass es 25 Millionen Reservisten gebe – bei einer auch möglichen Generalmobilmachung.
Verteidigungsminister Schoigu spricht von angeblich hohen Verlusten der Ukraine
Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, spricht Putin von der „Erpressung des Westens durch Atomwaffen“. „Bei Bedrohung unserer Integrität werden wir zweifellos alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Das ist kein Bluff!“ Etwas anderes, als mit dem Äußersten zu drohen, bleibt ihm nicht mehr.
Schon am Dienstag war bekannt geworden, dass die sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sowie die Gebiete Saporischschja und Cherson ihren „Anschluss“ an Russland per „Referendum“ erklären sollen. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Hohe Ämter in den „Volksrepubliken“ sind mit russischen Geheimdienstleuten und Armeeangehörigen besetzt. Was Moskau angibt, geschieht. Wie in einem Drehbuch zu Putins Auftritt wandten sich die Verwaltungschefs von Donezk und Cherson am Dienstag direkt an den Präsidenten im Kreml. Sie baten, dass er den Beitritt zu Russland befürworten möge. „Dieses Ereignis wird die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“, sagte Separatistenführer Denis Puschilin aus Donezk.
Darum will Putin Referenden in den besetzten Gebieten
Putin verhehlt nicht, was hinter seinem Vorhaben steckt: Eine Annexion der Gebiete würde für Moskau bedeuten, dass es die mögliche Rückeroberung durch die Ukraine als Angriff auf eigenes Staatsgebiet darstellen könnte. Wie viele Menschen sich in den von Moskau beherrschten Teilen der Ukraine aufhalten, lässt sich kaum sagen. Die Bevölkerung dort ist seit Februar durch Tod, Flucht oder Verschleppung nach Russland stark dezimiert worden.
Kiew reagierte mit Spott auf die Teilmobilmachung. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“ Der für „drei Tage“ geplante Krieg dauere bereits 210 Tage. Nach Ansicht der EU sind die Ankündigungen ein Zeichen der Verzweiflung Putins. Die Scheinreferenden und die Teilmobilisierung seien „ein weiterer Beweis dafür, dass Putin nicht an Frieden interessiert ist, sondern daran, seinen Angriffskrieg zu eskalieren“, sagt der Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Peter Stano.
Kiesewetter sieht Zeichen der Schwäche bei Putin
So wertet das auch der Unions-Außenexperte Roderich Kiesewetter. „Insgesamt wurde Russlands Armee erheblich überschätzt und wir sollten uns jetzt von der Teilmobilisierung deshalb nicht einschüchtern lassen“, sagte er unserer Redaktion. Es gehe deshalb nun darum, die Ukraine mit Waffenlieferungen erst recht „in die Lage zu versetzen, das Momentum zu nutzen, ihre Gegenoffensive erfolgreich weiterzuführen“, forderte der CDU-Politiker.
„Mit der bald beginnenden ,Schlammzeit’ werden raumgreifende Operationen über den Herbst und Winter eingeschränkt sein“, warnt der langjährige Bundeswehr-Oberst. „Zur Vorbereitung einer Frühjahrsoffensive müssen deshalb jetzt die Schützen-, Transport- und Kampfpanzer geliefert werden“, forderte er. „Panzer würden die ukrainischen Gegenoffensive massiv unterstützen und den Mangel an Feuerkraft lindern“, sagte der CDU-Außenpolitiker. „Vor allem würden sie aber die Soldaten beim Vorrücken schützen und so Menschenleben retten.“ Der Westen müsse jetzt Entschlossenheit zeigen. Deutschland dürfe sich nicht von Putins nuklearen Drohungen einschüchtern lassen. „Die Erfahrung zeigt: Putin blufft“, sagte Kiesewetter.
Auch die SPD im Bundestag bewertete den Schritt Russlands als „Zeichen der Schwäche“. „Aber es ist auch eine neue Eskalation“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Katja Mast. Die Teilmobilmachung zeige, dass Putin gewillt sei, auch weitere Schritte zu gehen. Deshalb müsse die Unterstützung der Ukraine ohne Nachlassen weitergehen.
Selenskyj fordert mehr deutsche Waffen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat unterdessen nochmals eindringlich an Deutschland appelliert, seinem Land Kampfpanzer zu liefern. „Gebt uns diese Waffen“, sagte Selenskyj im Interview mit Bild TV. „Für uns bedeuten Kampfpanzer heute, dass mehr Menschenleben gerettet werden können“, betonte der Präsident. Selenskyj ließ das Argument der Bundesregierung, nicht im Alleingang handeln zu wollen, nicht gelten. „Sie sind ein unabhängiger Staat. Wenn Sie uns diese Waffen nicht geben wollen, dann nichts für ungut, Sie haben Ihre Meinung. Aber sagen Sie nicht: Zuerst USA, dann Polen und so weiter.“ Über die Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen debattiert auch der Bundestag am Donnerstagnachmittag. Die Unionsfraktion hat dazu einen Antrag eingebracht. Bisher hat kein Nato-Land Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert. Kanzler Olaf Scholz betont stets, dass es in dieser Frage keinen deutschen Alleingang geben werde. (mit dpa)