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Psychische Belastungen im Ukraine-Krieg: Wie Betroffene kämpfen

Ukraine

So leiden Ukrainer unter psychischen Erkrankungen

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    Vitaly lebt mit einer psychischen Erkrankung. Die Folgen des Kriegs wirken sich negativ auf seine Gesundheit aus.
    Vitaly lebt mit einer psychischen Erkrankung. Die Folgen des Kriegs wirken sich negativ auf seine Gesundheit aus. Foto: Till Mayer

    Das letzte Stück Weg geht Vitaly zu Fuß. Ein paar Minuten nur. Der 36-Jährige läuft an einer Ruine vorbei. Das ehemalige psychiatrische Krankenhaus von Kramatorsk bekam 2022 einen Volltreffer ab. Geborstene Scheiben, eingestürztes Mauerwerk. Trümmer, die aus dem Gebäude gebrochen sind. Die Frontlinie ist keine 30 Kilometer entfernt. Nicht selten hört man das dumpfe Grollen der Artillerie bis in die Stadt hinein. Immer wieder heult die Sirene im langgezogenen Ton über die ganze Stadt. Sie warnt vor möglichen Angriffen aus der Luft.

    Vitaly freut sich, bald seine Psychiaterin zu sehen. „Marina ist eine wunderbare Hilfe für mich. Das möchte ich betonen“, erklärt er mit ernster Stimme. Nicht weit entfernt von der Ruine liegt die neue psychiatrische Klinik. Vitaly will den Namen seiner psychischen Erkrankung nicht nennen. Es fällt ihm schwer, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. Verlegen senkt er den Blick. Er spricht davon, wie er bei Schüben plötzlich Stimmen hört. Von den Tagen, an denen die Müdigkeit wie Blei auf seiner Brust liegt. „Dann kann es sein, dass ich es nicht einmal aus dem Bett schaffe“, erklärt er. „Zum Glück habe ich meine Großmutter, die mir dann hilft.“ Der 31-Jährige kämpfte sich zum Schulabschluss durch, bildete sich in Computer-Design fort und fand eine Anstellung in einer kleinen Druckerei. Dort entwarf er Umschläge und gestaltete Druckaufträge. „Die Arbeit hat mir Freude bereitet. Aber immer wieder war die Müdigkeit zu groß, und ich konnte mein Pensum nicht leisten. Oft kann ich mich nach zwei Stunden Arbeit nicht mehr konzentrieren. Ich wünschte, es wäre anders“, sagt er.

    Ukraine: Viele Zivilisten sind aus Kramatorsk geflohen

    Dann kam die russische Invasion. Kramatorsk liegt nahe der Front. Die Eroberung der Stadt ist ein erklärtes Ziel der russischen Kriegsführung. Der Großteil der Menschen hat den Ort verlassen. Dort, wo sonst Wasserfontänen in den Himmel stiegen, quaken jetzt Frösche in einer vor sich hin dümpelnden Brühe. Vor allem eines ist überall gegenwärtig: die Stille. Für die Zivilisten, die geblieben sind, ist der heranrückende Krieg ein furchteinflößendes Szenario. Ganz besonders für Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden. Mehrmals schlugen Raketen in der Stadt ein. Schon zu Beginn der Invasion forderte ein Einschlag dutzende Tote, als der Bahnhof getroffen wurde. Ein andermal starben mehr als ein Dutzend vor allem junger Menschen, als eine russische Rakete ein Café traf. Dazu kommen die Stromausfälle. Russische Angriffe aus der Luft haben über die Hälfte der ukrainischen Engergieinfrastruktur gezielt zerstört.

    Vitaly sucht Zuflucht im Glauben. „Wahren Frieden kann es am Ende nur mit Jesus geben“, sagt er. Dann tritt er durch den Eingang der Klinik. Die leitet Ludmilla Sevastyanova. „Der Krieg wirkt sich ausgesprochen negativ auf unsere Patienten aus. Aber natürlich auch auf das Personal. Die Gedanken kreisen um den Krieg und die Zukunft“, erklärt sie. Neben der Furcht um das eigene Leben kommen Sorgen um die Kinder hinzu, die in Unsicherheit leben. Um nahestehende Menschen, die an der Front kämpfen. Es gibt kaum noch eine Ukrainerin, einen Ukrainer, die oder der niemanden aus dem Bekannten- oder Familienkreis im Krieg gelassen hat. Millionen mussten ihre Heimatorte verlassen. „Vor allem das Ungewisse und die Unsicherheit zermürben die Menschen“, sagt die Klinikleiterin. Zunehmende Lebensängste führen zu Depressionen oder verstärken bestehende psychische Erkrankungen.

    Ludmilla Sevastyanova leitet die psychiatrische Klinik von Kramatorsk.
    Ludmilla Sevastyanova leitet die psychiatrische Klinik von Kramatorsk. Foto: Till Mayer

    Auch offizielle Statistiken belegen eine Zunahme psychischer Erkrankungen. Die Zahlen sind erschreckend: 2023 hatten laut dem ukrainischen Gesundheitsministerium 90 Prozent der Menschen in der Ukraine mentale Gesundheitsprobleme, zu denen leichte Formen wie Schlafprobleme oder eine Zunahme von Lebensängsten zählen. Über 20 Prozent haben mit schwereren und schweren mentalen Gesundheitsproblemen zu kämpfen.

    Soldaten kehren traumatisiert von der Front zurück

    Hinzu kommen neue Herausforderungen. „Mittlerweile behandeln wir auch Soldaten. An der Front erleben sie Traumatisches“, sagt Ludmilla Sevastyanova. Die Eingliederung hunderttausender Frontkämpfer in das zivile Leben wird eine gewaltige Herausforderung für die ukrainische Gesellschaft sein, spätestens wenn der Krieg einmal vorbei ist. Das ukrainische Gesundheitsministerium geht davon aus, dass bei einem Ende des Kriegs 15 Millionen Menschen eine therapeutische Behandlung brauchen.

    Vitaly sitzt mittlerweile im Behandlungszimmer. Die junge Psychiaterin Marina spricht mit ihm über sein neues Medikament. „Es wirkt viel besser als das vorherige. Und hat weniger Nebenwirkungen“, lobt der 36-Jährige. Er bittet dennoch um eine höhere Dosierung. „Es sind gerade besonders schwere Zeiten“, erklärt er. Die Medizinerin nickt. Vitali bezieht nur eine magere Invalidenrente. Das Medikament könnte er sich davon kaum nicht leisten. Dass er sie trotzdem bekommt, hat er der Organisation „Ärzte der Welt“ zu verdanken, die das Krankenhaus unterstützt. Es ist eines der vielen Projekte der Hilfsorganisation aus Deutschland im medizinischen Bereich. Unterstützt werden Einrichtungen von Binnenvertriebenen und Krankenhäuser. „Gut, dass wir die Medikamente bekommen“, freut sich die Krankenhausdirektorin.

    Sie träumt von einem Urlaub, wenn der Krieg vorüber ist. „Seit Beginn der Invasion verbiete ich mir, auch nur daran zu denken, einen Urlaub zu nehmen. Und wenn der Krieg eines Tages vorbei ist, dann sind Psychologen und Psychiater erst recht gefragt“, sagt sie. Millionen hat in der Ukraine dann der Krieg tief ins Herz gegriffen. „Ein trauriger Vorteil davon wird sein, dass die Stigmatisierung von psychisch Erkrankten abnimmt. Weil so viele Menschen durch den Krieg erfahren haben, dass es jeden treffen kann“, sagt sie zum Abschied. An ihrem Bürofenster läuft Vitaly vorbei auf dem Weg zu seinem Kleinbus. In einem kleinen Plastiktütchen trägt er seine Medikamente.

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