Stas Iwanow kennt diese Bilder. Er hat sie sich oft auf seinem Tablet angesehen und dann mithilfe seines Smartphones kommentiert. Bilder von Demonstranten, die von ihrer Regierung ein Leben nach Gesetz fordern. Bilder von Polizisten in Vollmontur, die auf friedlich herumstehende Menschen einprügeln. Bilder von Verletzten, die sich vor Schmerzen krümmen und laut „Freiheit“ rufen.
Iwanow kennt solche Bilder aus der Ukraine, aus Belarus, auch aus Chabarowsk in Russlands fernem Osten. „Es ist das eine, solche Bilder auf seinem bequemen Sofa anzuschauen; das andere aber, sich plötzlich mittendrin zu befinden. Das Mittendrin-Sein hatte ich bislang immer vermieden, jetzt aber reicht es“, sagt der 28-Jährige auf dem Puschkin-Platz in Moskau.
Hierher, mitten ins Zentrum der russischen Hauptstadt, hatte das Team um den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny die Menschen zum Protest aufgerufen. Sie sollten zeigen, dass sie mit der Willkür-Justiz des Staates nicht mehr leben wollen. Sie sollten die Freiheit für Nawalny fordern.
Und die Menschen kommen an diesem Samstag, sie kommen in Massen. In Moskau, in Sankt Petersburg, in Juschno-Sachalinsk, in Jakutsk, Jekaterinburg und Barnaul. In knapp 100 Städten versammeln sich Zehntausende Unzufriedene auf den Straßen, in manchen herrschen Temperaturen von minus 40 Grad.
Allein in Moskau sollen es mehr als 40.000 Demonstranten gewesen sein
Sie kommen, obwohl der Staat im Vorfeld eine starke Drohkulisse aufgebaut hatte, offenbar überzeugt davon, dass die Einschüchterungstaktik greifen würde. Sie kommen als Familie und mit Freunden, 60–Jährige, 40-Jährige, 20-Jährige. Allein in Moskau sollen es nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters mehr als 40.000 sein. Das Innenministerium spricht später von 4000 Teilnehmern. Wie viele Menschen letztlich durch die Straßen ziehen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da der Protest dezentral verläuft. „Es gingen ohnehin wenig Leute raus, für Putin stimmen viel mehr Leute“, wird Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Tag darauf in einer Fernsehshow sagen.
Die Protestierenden setzen da eher auf Informationen von unabhängigen Online-Portalen und sozialen Medien. So hatten im Vorfeld etliche Jugendliche mit Kurz-Videos über Nawalny vor allem auf der Videoplattform TikTok Gleichgesinnte mobilisiert. Auch Schriftsteller, Schauspieler und selbst Sportler hatten zu „Spaziergängen“, wie die Organisatoren die Demonstrationen nennen, aufgerufen.
Stas Iwanow denkt kaum über „viel oder wenig Protestpotenzial“ nach, er will „einfach mal was Neues“. Er sagt: „Seit ich denken kann, haben wir Putin als Präsidenten. Muss das sein?“
Zwar glaubten gerade die Älteren in den Regionen, die nicht über Internet verfügen und nur staatliches Fernsehen schauen, noch immer der offiziellen Propaganda, sagt der Russland-Experte Stefan Meister, 45, von der Heinrich-Böll-Stiftung. Aber insgesamt stehe Putin weit schlechter da als noch vor wenigen Jahren. „Der Krim-Effekt ist verpufft, seit 2010 sinken die Reallöhne, durch die Pensionsreform von 2018 wurde auch das treueste Klientel Putins, einfache Leute und Rentner, hart getroffen“, analysiert Meister im Gespräch mit unserer Redaktion. Mit der Folge, dass „die Unzufriedenheit wächst“.
Im Herbst soll das russische Parlament neu gewählt werden. Nach unabhängigen Umfragen komme Putins Partei „Einiges Russland“ nur noch auf 30 bis 40 Prozent. Der Präsident selbst dümpele bei rund 50 Prozent Zustimmung herum. „Das ist wenig für einen Autokraten wie Putin. Die Partei könnte Schwierigkeiten haben, die Parlamentswahlen zu gewinnen, wenn nicht manipuliert wird“, so Meister.
Es ist ihre erste nicht genehmigte Demonstration in Moskau
Stas Iwanow ist gemeinsam mit zwei Freunden aus dem Moskauer Umland ins Zentrum gekommen. Es ist ihre erste nicht genehmigte Demonstration, bei der sie dabei sind. „Irgendetwas in meinem Kopf hat Klick gemacht, und ich dachte: Heute oder nie. Trotz großer Angst.“
Der Schlosser schaut sich um, der Platz ist von Polizisten der Spezialeinheit Omon umstellt. Einer ruft immer wieder: „Verehrte Bürgerinnen und Bürger, achten Sie auf die Hygienemaßnahmen, die wegen der epidemiologischen Situation getroffen wurden. Beachten Sie die erforderliche Distanz, setzen Sie Masken auf und ziehen Sie Handschuhe an.“ Andere „Omonowzy“ gehen in die Menge, ziehen wahllos Menschen heraus und führen sie ab. Manche wehren sich, andere lassen es wortlos geschehen.
Der Puschkin-Platz ist unpassierbar, die Menschen stellen sich entlang der Bordsteine in den umliegenden Straßen, sie klatschen, sie winken, sie rufen: „Freiheit“, oder: „Russland ohne Schlamm“ – und gehen damit auf Nawalnys neuen Enthüllungsfilm ein.
Nawalny hatte in einem Video Putins Reichtürmer offengelegt
Der Politiker, der immer wieder die Korruption in seinem Land anprangert, hatte in seinem fast zweistündigen Video „Putins Palast“ die mutmaßlichen Reichtümer des Präsidenten offengelegt und ihn damit erstmals direkt angegriffen. Auch ein Schlammbad kommt in dem Film vor.
In vielen russischen Städten halten Demonstranten an diesem Tag Klobürsten in die Höhe – eine Anspielung darauf, dass im Badezimmer von Putins Riesenpalast eine italienische Klobürste im Wert von 700 Euro stehen soll. Doch hier, auf den Straßen unweit des Moskauer Kremls, ist der Film nur Nebensache. „Es weiß doch jeder, dass Putin und seine Entourage stehlen“, sagen die Menschen rund um den Moskauer Puschkin-Platz. Sie schreien es dann auch laut hinaus: „Putin ist ein Dieb.“
Nawalnys Video, mittlerweile fast 80 Millionen Mal geklickt, ist ein gutes Stück Infotainment, das sich selbst diejenigen gern anschauen, die vom Straßenprotest nichts halten. Denjenigen, die auf der Straße die einzige Möglichkeit der politischen Teilnahme sehen, weil es keine echten Wahlen, keine echten Parteien und nicht einmal politische Debatten im Land gibt, geht es um weit mehr als um Nawalnys Enthüllungen und die Haft des Politikers nach einer mehr als fragwürdigen Gerichtsverhandlung.
„Ich stehe nicht wegen Nawalny hier, ich stehe hier für mich und meine Kinder, die eine Zukunft in Russland haben sollen, vor der man keine Angst haben muss“, sagt Anna Jaryschewa, 42. „Nawalny ist nur ein Katalysator für all unsere Unzufriedenheit.“ Die Demonstranten wünschen sich einen Rechtsstaat, wollen soziale Sicherheiten und politische Institutionen, denen sie trauen können. „Natürlich werden die Mächtigen unsere Anliegen nicht gleich verstehen, deshalb müssen wir immer und immer wieder raus auf die Straße, andere Varianten gibt es in unserem Land leider nicht“, sagt die Hausfrau.
Die Ehefrau von Alexej Nawalny wird zeitweise festgehalten
Alexej Nawalny selbst, wie auch seine engsten Mitarbeiter, sitzen in Haft und haben kaum Zugang zur Außenwelt. Seine Frau Julia aber kommt zum Puschkin-Platz – und wird später zeitweise festgehalten. Diejenigen, die direkt mit der Arbeit für den 44-Jährigen in Verbindung gebracht werden, nimmt die Polizei zum Teil schon vor den Protesten fest, quer durchs Land.
In einigen russischen Städten reagieren die Sicherheitskräfte erstaunlich zurückhaltend, lassen die Protestierenden sogar großteils gewähren. Ein Polizist aus Kursk wiederum, der ein Video zur Unterstützung Nawalnys aufgenommen hatte, wird gefeuert. Er habe Angst, dass seine Kinder ihn irgendwann fragen würden: „Papa, was hast du dafür getan, dass wir in einem freien, florierenden Land leben können?“, sagt der Mann im Video. „Und ich habe darauf dann keine Antwort.“
Anna Jaryschewa, die Demonstrantin in Moskau, glaubt: „Die Welt sieht diese Willkür, sie sieht, wie Putin durchdreht. Über kurz oder lang wird sich hier etwas ändern, zumal es die Jüngeren sind, die etwas bewegen wollen. Sie lassen sich nicht mit ein wenig besseren Renten kaufen.“ Sagt es und taucht, in eine knallgrüne Jacke gehüllt, wieder in der Menge unter.
Die Fahrer in den vorbeifahrenden Autos hupen, sie winken und formen mit ihren Fingern das Victory-Zeichen. „Wir haben zwei Länder in einem Land“, sagt die 47-jährige Julia. „Eines, in dem sich die Menschen im Staatsfernsehen informieren, und eines, in dem man sich die Informationen im Internet beschafft.“ Selbst durch Familien gehe ein Riss: „Solange wir miteinander Tee trinken und Pfannkuchen essen, ist alles gut. Aber sobald es um Politik geht, eskaliert es.“ Die Unternehmerin ist mit ihrer Tochter Alexandra auf den Puschkin-Platz gekommen.
Kann Nawalny Putin ernsthaft herausfordern?
„Wir sind wütend“, schimpft Julia. „Wenn mit Nawalny so etwas Grässliches geschehen kann, obwohl er in der Welt bekannt ist, was könnte der Staat dann uns einfachen Bürgern alles antun?“ Und Alexandra sagt: „Nicht hierherzukommen, macht noch mehr Angst, als hier zu sein.“ Die beiden Moskauerinnen waren schon bei Dutzenden Protestaktionen dabei. „Diese aber hat einen ernsteren Charakter.“
Eine Stunde später stürmen Dutzende Polizisten in die Menschenmenge. Mit Schlagstöcken traktieren sie die Protestierenden, treten und drängen sie in Richtung Metro-Stationen. Die Demonstranten wiederum suchen den Weg zum Kreml, in Richtung der Geheimdienstzentrale an der Lubjanka. Sie bewerfen die Polizisten mit Schnee.
Einige ziehen zur „Matrosenstille“ im Nordosten der Stadt. Dort, im berüchtigten Untersuchungsgefängnis, muss Nawalny 30 Tage Arrest absitzen. Er soll gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben, während er sich in Deutschland von einem Giftanschlag im August erholte. Ob er danach in Freiheit kommt, ist ungewiss. Mehrere Verfahren warten auf den Mann.
„Nawalny ist jetzt definitiv der wichtigste Oppositionspolitiker“, urteilt Russland-Experte Meister – relativiert aber: Er würde in Moskau vielleicht 20 bis 30 Prozent erreichen, wären die Wahlen wirklich frei. „Ich sehe im Augenblick nicht, wie Nawalny Putin ernsthaft herausfordern könnte. Der Sicherheitsapparat hat die Lage im Griff.“
Mehr als 3400 Demonstranten wurden festgenommen
Vor dem Untersuchungsgefängnis rufen die Demonstranten in die Dunkelheit hinein: „Ljocha (ein Kosename für Alexej, die Red.), komm raus.“ Die Omon-Polizisten prügeln viele von ihnen zu Boden.
Am Abend eines für russische Verhältnisse historischen Protesttages sind in Russland nach Angaben der Beratungsorganisation OWD-Info mehr als 3400 Menschen festgenommen, allein in Moskau sollen es knapp 1400 sein. Die Behörden kündigen an, wegen „Gewalt gegen Staatsbedienstete“ zu ermitteln.
Die Nawalny-Anhänger wollen am kommenden Wochenende wieder auf die Straße ziehen.
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