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Proteste an US-Unis gegen Gaza-Krieg: Das steckt dahinter

USA

Der Gaza-Krieg und die Studentenproteste auf Irrwegen

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    An der Columbia University in New York haben propalästinensische Demonstranten ein Zeltlager errichtet. Später wurde es von der Polizei geräumt.
    An der Columbia University in New York haben propalästinensische Demonstranten ein Zeltlager errichtet. Später wurde es von der Polizei geräumt. Foto: Stefan Jeremiah/AP, dpa

    Die jungen Menschen, die kurz vor Mitternacht auf einem Bordstein in Harlem stehen, sind sichtbar aufgewühlt. Eine Frau, höchstens Mitte 20, die ein Palästinensertuch über dem Mund trägt, zittert am ganzen Leib. Wenn sie anfängt zu sprechen, überschlägt sich ihre Stimme. Ihre Begleiterin tippelt von einem Fuß auf den anderen und saugt nervös an einer Zigarette.

    Nur wenige Meter von ihnen entfernt hat sich auf der Amsterdam Avenue eine Hundertschaft an Polizisten aufgebaut, sie tragen kugelsichere Westen und Helme und halten sich Schlagstöcke vor die Brust. Seit drei Stunden stehen sie nun schon hier am Eingang des City College, der öffentlichen New Yorker Universität, die wegen der Qualität ihrer Ausbildung auch das Harvard der einfachen Leute genannt wird. Scheinbar wahllos verhaften sie seither Studentinnen und Studenten, teilweise mit rabiater Gewalt und setzen sie in wartende Gefängnisbusse.

    Der Einsatz der New Yorker Polizei an der Columbia-Universität hatte für Aufsehen und Kritik gesorgt, in der Folge kam es an Dutzenden US-Universitäten zu Protesten.
    Der Einsatz der New Yorker Polizei an der Columbia-Universität hatte für Aufsehen und Kritik gesorgt, in der Folge kam es an Dutzenden US-Universitäten zu Protesten. Foto: Douglas R. Clifford/Tampa Bay Times via AP, dpa

    Polizei dämmte Studentenproteste gegen den Krieg in Gaza ein

    Am Nachmittag hatte die Universitätsleitung gemeinsam mit der kaum zwei Kilometer entfernten Columbia University die Polizei gerufen, um die Studentenproteste gegen den Gaza-Krieg einzudämmen. Die Zeltlager wurden geräumt, die Polizisten drangen über einen Kran in den zweiten Stock der „Hamilton Hall“ von Columbia ein, um die Demonstranten abzuführen, die an jenem Nachmittag das Veranstaltungsgebäude besetzt hatten.

    „Sie sind von beiden Seiten auf uns zugekommen“, erzählt eine der Studentinnen. „Die Polizisten haben uns von hinten in die Polizisten vor uns gedrängt damit es so aussah, als wären wir die Provokateure gewesen“, sagt sie. Ihre Mitstreiterin liefert dazu gleich die Analyse. „Es ist genau wie in Gaza“, schreit sie in die Nacht. „Sie schicken uns eine Armee, die uns brutalisiert, obwohl wir hier nur friedlich unsere Rechte ausüben. Es sind genau dieselben Kräfte der Unterdrückung.“ Mit einem Satz schlägt die junge Frau eine Art Brücke zwischen der israelischen Invasion von Gaza und der amerikanischen Polizeigewalt. Ein beistehender Student, ebenfalls mit Palästinensertuch maskiert, sagt: „Dies ist die Universität des Volkes, wir sind mehrheitlich People of Color. Und die New Yorker Polizei wird bekanntermaßen vom israelischen Militär ausgebildet.“

    In Berlin besetzten Pro-Palästina-Aktivisten einen Innenhof der Freien Universität

    Es ist genau die Art von Rhetorik, die Kritikern der mittlerweile USA-weiten Studentenproteste sauer aufstößt. So schrieb der Linguistik-Professor John McWhorter von der Columbia University in einem Kommentar in der New York Times: „Die Gegner des Kriegs in Gaza auf der Linken platzieren den Konflikt in den Zusammenhang einer größeren Schlacht gegen globale Machtstrukturen – in diesem Fall in Form von Kolonialismus und Genozid – und gegen Whiteness“. Dabei, so McWhorter, gehe jedoch einiges an Nuance verloren. Es ist diese Verortung der Ereignisse in Gaza im Diskurs des Postkolonialismus, die moderateren Stimmen wie McWhorter am jetzigen Studentenprotest stört. Einem Protest, den es übrigens auch in Deutschland gibt: Erst am Dienstag haben an der Freien Universität Berlin Pro-Palästina-Aktivisten einen Innenhof mit einem Zeltcamp besetzt.

    Für eine Mehrheit der amerikanischen Linken war schon unmittelbar nach dem 7. Oktober klar, dass das von der US-Regierung unterstützte Israel an der Aggression durch die Hamas letztlich selbst schuld ist. Bei einer Kundgebung im Times Square am 8. Oktober trugen Angehörige der Demokratischen Sozialisten Amerikas, denen sich unter anderem Bernie Sanders zurechnet, Schilder mit der Aufschrift „Dekolonisierung ist keine Metapher“ und „By all means necessary“ – mit allen notwendigen Mitteln. Ein Zitat des Bürgerrechtskämpfers Malcolm X, der im Zweifel Widerstand gegen Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern auch mit Waffengewalt befürwortete.

    McWorther warnt vor Vereinfachung der Geschehnisse im Nahen Osten

    Für Menschen wie McWhorter, ein afroamerikanischer Linguist, ist das eine gefährliche Vereinfachung dessen, was in Nahost passiert und eine Instrumentalisierung der Ereignisse dort für die eigenen politischen Ziele. Es gebe guten Grund dazu, „den israelisch-palästinensischen Konflikt als den moralisch schwierigsten der modernen Welt zu betrachten“.

    Der deutsch-stämmige jüdische Politologe und Publizist Yascha Mounk, selbst ehemaliger Columbia Student, empfindet das ähnlich. Er sieht hier eine reduktive intellektuelle Kultur am Werk, die an vielen US-Universitäten Wurzeln geschlagen habe. „Es gibt diese Grundidee, dass man die Welt in Weiße und People of Color aufteilen kann, in Kolonisierte und Kolonisatoren und dass man Rassismus nur strukturell begreifen kann.“ Das werde jedoch oft den Realitäten nicht gerecht.

    Aktuelle Proteste als direkte Folge der Proteste der 60er-Jahre

    Für Mounk und McWhorter sind die jetzigen Proteste der Auswuchs eines akademischen Nährbodens, der sich in den USA in den vergangenen 30 Jahren dramatisch gewandelt hat. „Die amerikanischen Universitäten“, schreibt der Journalist und Schriftsteller George Packer, „ernten, was sie gesät haben“. Was man jetzt an den amerikanischen Universitäten sehe, so Packer, sei eine direkte Folge der Proteste der 60er-Jahre, auf welche sich die heutigen Demonstranten gerne berufen. So war es ein durchaus intendierter symbolischer Akt, als die Studenten der Columbia University exakt am Jahrestag der Besetzung der „Hamilton Hall“ an der Columbia University im Jahr 1968 dasselbe Gebäude erneut stürmten.

    Nachdem die Universitätspräsidentin Minouche Shafik noch am selben Tag die New Yorker Polizei gerufen hatte, um das Gebäude räumen zu lassen, trat der palästinensisch-stämmige Historiker Rashid Khalili mit einem Megafon vor die Tore der Universität auf den Broadway und erinnerte an jene Tage in den 60er-Jahren, als er selbst Student war. Damals, verkündete Khalili, hätten Columbia Studenten auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden und nicht zuletzt ihrem Protest sei es zu verdanken gewesen, dass der Vietnam Krieg schließlich beendet wurde. Nun seien es erneut die Columbia Studenten, so Khalil, die Amerika aufrüttelten und dazu beitrügen, einen weiteren kriminellen Krieg zu beenden, den die US-Regierung unterstütze. „Hier spricht das Gewissen der Nation durch junge Menschen, die bereit sind, ihre Karriere und ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen.“

    Columbia sagt große Abschlussfeier ab

    Der Unterschied zu den 60er-Jahren ist jedoch, dass Akademiker wie Khalil in der Universität nun die Entscheidungsträger sind. „Die Studenten von damals sind die Professoren von heute“, schreibt Packer. Die revolutionären Ideen der 60er-Jahre sind zur Orthodoxie geronnen. Die Dogmen der kritischen Theorie, des Postkolonialismus und der Identitätspolitik, so Packer, seien der nächsten Studentengeneration so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie kaum mehr reflektiert würden.

    Gerade im Fall der Columbia University, aber auch in Berkeley in Kalifornien, den beiden Zentren der Studentenproteste der Sechzigerjahre, ist dieses Erbe zum Kern ihrer Identität geworden. Die Columbia Universität, die wegen der aktuellen Demonstrationen eben erst die große Abschlussfeier abgesagt hat, wirbt auf ihrer Website mit Fotos und mit der Geschichte der 68er-Proteste um neue Studenten. Hier, so das Versprechen, hat der Kampf gegen die Mächtigen eine Heimat – so man denn die teuren Studiengebühren aufbringen kann. Das Erbe von Edward Said und der Lehrstuhl für postkoloniale Studien sind der ganze Stolz der Geisteswissenschaften und lockt Studenten aus der ganzen Welt an.

    Jüdische Studierende fühlen sich bedroht

    Das Gerinnen der Glaubenssätze der akademischen Machtkritik zur Orthodoxie hat laut Yascha Mounk einige fatale Folgen. „Es wird zunehmend mit zweierlei Maß gemessen und das führt zu Verwirrung.“ Einerseits wäre seit Jahren penibelst jeder Sprachgebrauch darauf abgeklopft worden, ob er für irgendjemanden verletzend seine könne. Auf der anderen Seite würde man sich nun das Recht dazu herausnehmen, Dinge in die Welt hinauszubrüllen, die insbesondere auf jüdische Studenten extrem bedrohlich wirken.

    Weder John McWhorter noch Yascha Mounk glauben, dass die zentrale Motivation der Demonstranten Anti-Semitismus sei. Doch das Klima an den Universitäten ist für Juden seit dem 7. Oktober deutlich unangenehmer geworden. So sagt Maytal Polonetsky, eine Columbia Studentin im ersten Semester, dass sie ihren Ketten-Anhänger in der Form des Staates Israel auf dem Campus mittlerweile lieber verstecke. Sie fühle sich zwar nie physisch bedroht. Aber die vergangenen Monate seien emotional extrem anstrengend gewesen.

    Ist das „goldene Zeitalter der amerikanischen Juden“ vorbei?

    Rebecca Massel, Reporterin für die Studentenzeitung Columbia Spectator, interviewte nach dem 7. Oktober insgesamt 54 jüdische Studierende. Das Ergebnis war erschreckend: 13 berichteten, sie seien belästigt oder attackiert worden, 34 sagten, sie fühlten sich auf dem Campus unsicher, zwölf erklärten, sie würden, wie Maytal Polontsky, ihre jüdische Identität verstecken.

    Der Journalist Franklin Foer hat in einem langen Essay im Atlantic Magazine gar die Diagnose gestellt, dass „das goldene Zeitalter der amerikanischen Juden zu Ende gehe.“ „Amerikanische Juden haben über viele Generationen ein noch nie da gewesenes Maß an Sicherheit, Wohlstand und politischem Einfluss genossen.“ Infolge der illiberalen Tendenzen auf der Rechten wie auch auf der Linken gehe dieses Zeitalter jetzt jedoch zu Ende. „Wir leben in einer Zeit der Verschwörungen, der Überzeichnungen und der politischen Gewalt.“ Das sei schlecht für amerikanische Juden und schlecht für Amerika. „Wenn die USA auf ihrem gegenwärtigen Kurs bleiben, bedeutet das nicht nur das Ende der goldenen Ära der amerikanischen Juden, sondern auch des Landes, das sie getragen hat.“

    Auch Juden zeigen Solidarität mit den Protestierenden

    Es gibt aber auch amerikanische Juden, welche die Lage weniger pessimistisch einschätzen. Libby Garland etwa, Geschichtsprofessorin an dem staatlichen Universitätsnetzwerk, zu dem auch das besetzte City College gehört, ist an diesem Dienstagabend gekommen, um Solidarität mit den protestierenden Studenten zu zeigen. Sie ist eine von Tausenden New Yorker Juden, die sich in der Pro-Palästina Bewegung engagieren. Garland fühlt sich dadurch ermutigt, dass die „intersektionale“ linke Bewegung im ganzen Land in den Studentenprotesten Präsenz zeigt. Der Staat Israel, meint sie, gehöre nicht zum Kern ihrer jüdischen Identität. Für sie steht der Protest gegen die Grausamkeiten in Gaza und die amerikanische Unterstützung für Israel nicht im geringsten Widerspruch zu ihrem Jüdischsein. In gewissem Sinn gehört es sogar zu der langen Tradition linken politischen Engagements amerikanischer Juden. 

    „Der einzige Anti-Semitismus, den ich spüre“, sagt sie, während sich die Menge vor dem City College verläuft und die Polizisten das Quartier übernehmen, „ist der von konservativen Juden, die Pro-Palästina Demonstranten wie mir ihr Jüdischsein absprechen.“ Das alles, glaubt sie, lenke doch nur von dem eigentlichen Problem ab, dem täglichen Sterben in Gaza. Und nur darauf gelte es, sich jetzt zu konzentrieren.

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