Bevor angehende Mediziner das letzte Staatsexamen ablegen und das Studium beenden, durchlaufen sie einen finalen, entscheidenden Abschnitt ihrer Ausbildung: das Praktische Jahr. Nach mindestens zehn Semestern voller Theorie sollen die Studierenden sich in 48 Wochen auf ihre künftige Arbeit vorbereiten, ihr Wissen vertiefen und anwenden. Die Medizinstudentin Valentina Spleis hat ihr Praktisches Jahr eben hinter sich gebracht. Sie arbeitete bis vor wenigen Wochen mit Patienten, führte Aufklärungsgespräche, half, Diagnosen zu stellen und assistierte bei Operationen. Mitte Mai wird sie ihr Studium beenden. Für die junge Frau war es eine Zeit, die nicht immer einfach war, eine Zeit, in der viele Medizinstudierende sich krank in die Klinik schleppen und trotz einer 40-Stunden-Woche oft keinen Cent verdienen.
Das Praktische Jahr ist ein verpflichtender Teil des Medizinstudiums und wird unter Medizinern und Medizinerinnen oft mit "PJ" abgekürzt. In der Regel gliedert es sich in drei Ausbildungsblöcke, sogenannte Tertiale, in denen die Studierenden je 16 Wochen in den Fachbereichen der Chirurgie, Inneren Medizin und einem Wahlbereich mitarbeiten. Etwa 40 Stunden in der Woche sollen die "PJler", wie man sie nennt, in Kliniken ihrer Wahl arbeiten und das Personal unterstützen.
Nur 30 Fehltage: Auf den Studierenden lastet enormer Druck
Während des gesamten Praktischen Jahres werden den Studierenden 30 Fehltage zugestanden. Dabei ist egal, ob die Studierenden krank sind, oder freiwillig fehlen. "Es ist ein enormer Druck, wenn man weiß, dass man eigentlich nicht krank werden darf", sagt die Medizinstudentin Spleis. Wer wie sie einen Ausbildungsblock splittet, um einen Teil des Praktischen Jahrs im Ausland zu absolvieren, dürfe sich in diesen acht Wochen keinen einzigen Fehltag erlauben. Doch sie erkrankte an Covid. "Das war ein Riesenthema", erinnert sie sich. Nach einigen Diskussionen mit der Personalabteilung und dem Kliniksekretariat akzeptierten sie ihre Krankmeldung, und sie musste das Tertial nicht wiederholen. "Ich war komplett abhängig davon, wie kulant meine Klinik reagiert", sagt sie.
Die Erfahrungen von Spleis sind kein Einzelfall: "Man hört immer wieder von anderen PJlern, die sich mit über 39 Grad Fieber auf die Arbeit schleppen", erzählt der Medizinstudent Cemil Görkem Osmanusta. Gerade befindet er sich in seinem zweiten Viermonatsblock. "Es ist egal, ob dir das Bein abgeschnitten wird, oder du ein verlängertes Wochenende brauchst, Fehltage sind Fehltage. Da achtet man schon sehr darauf, dass einem das nicht passiert." Gerade wenn man das Praktische Jahr an einer potenziellen zukünftigen Arbeitsstelle absolviert, nehme man sich zudem oft die Zeit, versäumte Stunden aufzuholen – sofern diese Möglichkeit überhaupt angeboten wird. "Man will mehr geben als das Minimum", sagt der 26-Jährige.
Medizinstudierende werden zum Teil für fachfremde Aufgaben ausgenutzt
Die Mehrheit der Studierenden verbringt nach Angaben des PJ-Barometers des Marburger Bunds, der Gewerkschaft der angestellten Ärzte, mehr als 40 Stunden in den Krankenhäusern. Die Vergütung dieser Arbeitsleistung ist allerdings nicht einheitlich geregelt: 2023 erhielten elf Prozent der Befragten keinerlei Vergütung in Form von Geld- oder Sachleistungen. Bei der großen Mehrheit mit 62 Prozent lag die "Aufwandsentschädigung" zwischen 301 und 649 Euro. Insbesondere große Kliniken in Großstädten haben den Ruf, "sich leisten zu können, die PJler nicht zu bezahlen und trotzdem überrannt zu werden", sagt der Medizinstudent Osmanusta.
Das PJ kann Einfluss auf spätere berufliche Entscheidungen nehmen
Spleis verbrachte ihre PJ-Abschnitte in Kliniken in ihrer Universitätsstadt Heidelberg, in Hamburg und in Newcastle in England. Während der Ausbildungsblöcke habe sie durchschnittlich 450 Euro verdient. "Ohne meine Eltern wäre das nicht möglich gewesen", sagt die Studentin. Eine zentrale Forderung vieler Medizinstudierender stellt die Anhebung der Vergütung auf den Bafög-Höchstsatz, derzeit 934 Euro im Monat, auf verpflichtender Basis auf Bundesebene dar.
Der Marburger Bund beschäftigt sich ebenfalls mit dem Praktischen Jahr und den individuellen Rahmenbedingungen in Kliniken. In einer Umfrage aus dem Jahr 2023 berichteten 83 Prozent der befragten Studierenden, dass sie während des PJ auch nichtmedizinische Aufgaben wie Botengänge erledigen mussten. 97 Prozent übernahmen delegationsfähige Leistungen wie Injektionen, Verbandswechsel oder Blutentnahmen. 77 Prozent geben an, einen maßgeblichen Teil der ärztlichen Kernleistungen wie Patientengespräche, Untersuchungen und Diagnosestellungen übernommen zu haben – also der Sinn des PJ erfüllt wurde.
Praktisches Jahr im Medizinstudium: wertvolle Erfahrungen, aber auch undankbare Routinejobs
Medizinstudentin Spleis konnte während ihres Praktischen Jahrs positive Erfahrungen sammeln. "Mein PJ war rückblickend insgesamt gut. Die Ärzte und Ärztinnen, mit denen ich arbeiten durfte, waren sehr geduldig und hatten Interesse daran, dass wir Studierende etwas lernen". Dass das nicht bei allen Studierenden so ist, weiß auch sie: In einigen Fällen übernehmen "PJler" größtenteils unbeliebte Routinejobs, wie den Blutentnahmedienst. Tiefergehende Einblicke in die medizinische Arbeit bekämen manche dadurch nur schwer. Und wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wenig tun, um die Nachwuchskollegen vom Fachbereich zu begeistern, könne dies Einfluss auf den beruflichen Werdegang nehmen: "Wer in einem Tertial keine Erfahrungen oder keine guten Erfahrungen sammeln kann, entscheidet sich vielleicht später nicht für diesen Bereich, obwohl man vorher überzeugt war", sagt die 27-Jährige.
Der Facharzt Sergiu Doniga teilt diese Annahme. 2013 gründete er darum das Netzwerk Ethimedis – ein Portal, das Studierenden helfen soll, eine PJ-Stelle mit fairen Arbeitsbedingungen und hoher Ausbildungsqualität zu finden. Dort können Medizinstudierende ihre Erfahrungen in den verschiedenen Kliniken anhand objektiver Kriterien bewerten. Die Onlineplattform erhebt etwa, wie selbstständig die Studierenden arbeiten dürfen, ob sie eine Unterkunft und Klinikkleidung gestellt bekommen und wie häufig die Studierenden unterrichtet werden. Auch ausführliche Berichte werden erfasst und veröffentlicht. "Wir haben gesehen, welche Tragweite das PJ je nach dessen Ausbildungsqualität auf die berufliche Zukunft der Studierenden haben kann", erklärt er im Gespräch.
Der Medizinstudent Osmanusta hat vergleichbare Portale genutzt, um seine Stellen zu finden. Dabei habe er gezielt nach mittelgroßen und kleineren Kliniken Ausschau gehalten. "Dort wird man oft mehr wertgeschätzt und kann mehr machen, weil man nicht in einer Masse an PJlern untergeht", erklärt der 26-Jährige. Ein Plan, der bisher aufgegangen sei: "Ich kann hier sehen und machen, was mich interessiert, kann mit jedem Arzt mitlaufen und mit Patienten arbeiten". Doch er kenne auch andere Studierende, die private Aufgaben für Vorgesetzte, wie das Abholen von Paketen, haben erledigen müssen.
Spleis: "Im Prinzip sind beide Parteien voneinander abhängig"
Die fehlende Wertschätzung der Arbeit und des Wissens der Studierenden ist für Portalgründer Doniga unverständlich. Außerdem sei es nicht möglich, mit 400 Euro im Monat zu leben – und, dass man "mit Wissen bezahlt wird", sei nur bedingt vertretbar. "Auch eine monetäre Wertschätzung ist von Bedeutung, für die Zeit und geleistete Arbeit", sagt der promovierte Arzt. Und: "Die Studierenden sollen sich auf das PJ konzentrieren können, und nicht im Anschluss noch Taxi fahren müssen, um die Miete bezahlen zu können."
Genauso unzufrieden äußert sich Spleis zur Bezahlung: "Das gehört sich überhaupt nicht. Man bekommt zwar Lehre, aber das steht unter Umständen in keinem Verhältnis zur Arbeit." Zumal Krankenhäuser von den Studierenden profitieren könnten. "Wenn wir uns einbringen, können wir die Kliniken mit unserer Arbeit entlasten", erklärt sie. "Im Prinzip sind beide Parteien voneinander abhängig". In manchen Fällen würde diese Abhängigkeit jedoch von einer Seite scheinbar ausgenutzt.