Mit ruhiger Hand nimmt der 77-Jährige die Schutzmaske vom Gesicht. Vor einem Meer von Sternenbannern blickt er entschlossen in die Kamera. „Ich kann nicht atmen“, sagt er, wiederholt den Satz und erinnert daran, dass dies die letzten Worte George Floyds waren. „Sie schallen wie ein Echo überall in der Nation zurück.“ Dann schlägt Joe Biden eine assoziative Brücke zwischen dem Coronavirus, das den Opfern die Luft nimmt, und der Pandemie des Hasses, die das Leben eines schwarzen Mannes unter dem Knie eines weißen Polizisten beendete.
„Ich kann nicht atmen“ sei das, was Millionen Amerikaner nicht in ihren letzten Momenten des Lebens, sondern in ihrem Alltag erleben. Es sei Zeit, auf sie zu hören. Die Kommentatoren sind sich einig. So klingen die Worte eines Führers, der die Nation angesichts einer historisch beispiellosen Doppelkrise tröstet, aufbaut und führt. „Wir brauchen keinen Präsidentschaftswahlkampf, sondern einen Präsidenten“, bringt Chris Truax im Massenblatt USA Today die Erwartung an Biden auf den Punkt. Donald Trump sei nicht nur abwesend, sondern gieße Öl ins Feuer. „Das Vakuum muss gefüllt werden.“
Diese Erkenntnis dämmert auch im Beraterkreis des designierten Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, der sich auf die 1911 Delegiertenstimmen zubewegt, die er für seine offizielle Nominierung braucht. Eine Formalie, da sein Konkurrent Bernie Sanders längst ausgeschieden ist und Biden unterstützt.
US-Senator will mehr von Joe Biden in der Öffentlichkeit sehen
„Ein Führer muss Risiken eingehen“, sagt Senator Chris Coons aus Bidens Heimatstaat Delaware. Coons wünscht sich, mehr von Biden in der Öffentlichkeit zu sehen. „Ich wäre nicht überrascht, wenn er nach Minneapolis ginge.“ Sicher ist, dass Biden auf Einladung der Familie am Dienstag nach Houston reisen wird, um an der Beerdigung George Floyds teilzunehmen. Eine unübersehbare Geste, die einen Kontrast zu dem Amtsinhaber schafft, der damit droht, das Militär gegen Amerikaner einzusetzen, die grundlegende Veränderungen verlangen.
In den vergangenen Tagen tauchte der aufgrund seines Alters der Corona-Risikogruppe angehörende Biden vorsichtig aus der Quarantäne auf. Und wandte sich aus Philadelphia an die Nation – am selben Ort übrigens, an dem Barack Obama seine historische Rede über das Rassenverhältnis hielt.
Doch mit Reden allein ist es vor allem für die jungen Aktivisten nicht getan. Sie erwarten mehr. Jetzt sei es an ihm, dem schwarzen Amerika in der Doppelkrise aus Pandemie und Polizeigewalt zu helfen. Bidens Strategen erkennen, dass er sich in diesem Moment nicht als Präsident des Übergangs verkaufen kann, sondern als einer, der grundlegende Reformen anbietet. Nicht weniger als das erwarten junge Amerikaner, die Biden bisher nicht genügend angesprochen hat. Angela Lang, die eine Gruppe schwarzer Aktivisten in Milwaukee anführt, meint, die bisher vorgelegten Ideen seien „ein Beginn“, aber bei weitem nicht genug. „Er muss konkreter werden.“
Joe Biden verurteilt Donald Trump
Biden nimmt sich das zu Herzen. „Genug“, fasst er nun auf seiner Webseite die Stimmung auf der Straße zusammen. Und auch in seiner Rede von Philadelphia wird „Onkel Joe“ direkter. „Ein Präsident der Vereinigten Staaten muss Teil der Lösung sein, nicht das Problem“, schreibt er Trump ins Stammbuch. „Heute ist unser Präsident ein Teil des Problems.“
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