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Präsidentenwahl: Ärger über Erdogan-Sympathie - Özdemir fordert "Zeitenwende"

Präsidentenwahl

Ärger über Erdogan-Sympathie - Özdemir fordert "Zeitenwende"

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    Erdogan-Anhänger im Duisburger Norden.
    Erdogan-Anhänger im Duisburger Norden. Foto: Christoph Reichwein, dpa

    Nach dem Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan in der Türkei hat die erneut hohe Zustimmung bei den Wahlberechtigten in Deutschland für Streit gesorgt. Bundesagrarminister Cem Özdemir forderte eine "Zeitenwende" in der deutschen Türkei-Politik. "Wir haben im Umgang mit Putin gesehen, wozu das führt, wenn man sich eine Situation schönredet", sagte der Grünen-Politiker vor Journalisten in Solingen mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

    Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, verwahrte sich gegen das "Bashing" von Wählern und sah die deutsche Politik in der Pflicht.

    Bei der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt hatte Erdogan knapp gewonnen, unter den rund 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland dabei ungefähr eine Zweidrittelmehrheit geholt. 67,2 Prozent der in Konsulaten in Deutschland abgegebenen Stimmen entfielen nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auf Erdogan. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kam auf 32,8 Prozent. Gut 760.000 Menschen gaben demnach in Deutschland ihre Stimme ab, das entspricht einer Wahlbeteiligung von rund 50,4 Prozent.

    Tausende Unterstützer in Deutschland auf der Straße

    Als sich am Sonntagabend Erdogans Sieg abzeichnete, zog es in vielen deutschen Städten insgesamt Tausende Unterstützer auf die Straße. Unter anderem in Berlin, Duisburg, Hamburg, Frankfurt, Ulm, Mainz, Saarbrücken, München und Hof fuhren hupende und mit Türkei-Fahnen geschmückte Autos durch die Straßen. Dabei blieb es laut Polizei überwiegend friedlich. In Mannheim kam es allerdings zu Auseinandersetzungen. Auch in Dortmund gerieten einige Feiernde mit der Polizei aneinander. In vielen Städten gab es zudem Anzeigen - etwa wegen Verkehrsvergehen oder dem Zünden von Pyrotechnik. Allein in München wurden 94 Verkehrsordnungswidrigkeiten angezeigt.

    Özdemir sagte, der laute Jubel vieler Erdogan-Anhänger in deutschen Städten sende ein verstörendes Signal. "Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen." Wenn junge Türken den Erdogan-Sieg so ausgelassen feierten, sei das "gleichzeitig auch eine Absage an das Zusammenleben hier, eine Absage an die liberale Demokratie", sagte Özdemir. "Wir drohen diese Menschen zu verlieren", mahnte er. Deshalb müsse die Politik dafür sorgen, dass man junge türkeistämmige Menschen in den Schulen erreiche - mit einem System, in dem Bildungserfolg nicht an die Herkunft der Eltern gekoppelt sei.

    Er forderte: "Die Zeitenwende, die wir Gott sei Dank endlich haben im Umgang mit Putin, die braucht es jetzt auch im Umgang mit türkischem Ultranationalismus, die braucht es jetzt auch im Umgang mit Fundamentalismus." Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jürgen Hardt, bezeichnete das Abstimmungsverhalten in Deutschland in der "Rheinischen Post" als "befremdlich". "Die Pluralität und Meinungsvielfalt, die sie in Deutschland genießen, wollen sie für ihre zweite Heimat anscheinend nicht", sagte er.

    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte Erdogan nach dem Wahlsieg auf Twitter geschrieben, Deutschland und die Türkei seien enge Partner und Alliierte - auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sei man stark miteinander verbunden. "Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben", schrieb er.

    "Dämonisierung der Bevölkerung bringt nichts"

    Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen sagte mit Blick auf das Wahlverhalten in Deutschland: "Die Dämonisierung der Bevölkerung - das bringt nichts. Man muss die Wahlmotive verstehen. Je mehr wir die Leute beschimpfen, umso stärker treiben wir sie in die Hand von Erdogan." Sofuoglu von der Türkischen Gemeinde sagte: "Man könnte gerade auch die Menschen, die so politisiert sind, so aktiv in der Politik sind, auch mal für die deutsche Politik gewinnen." Da habe die deutsche Politik sehr viel versäumt.

    Erdogan hatte bereits im ersten Wahlgang vor zwei Wochen bei den Deutsch-Türken mit 65,5 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen. Bei der Wahl 2018 waren es 64,8 Prozent gewesen.

    Ulusoy sagte, das Ergebnis sage natürlich etwas über die Haltung der Deutsch-Türken aus. Er betonte aber, dass nur knapp 1,5 Millionen der insgesamt rund 2,8 Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland wahlberechtigt seien – und zwar vor allem die erste und zweite Generation derjenigen, die im Zuge der Arbeitsmigration aus der Türkei gekommen seien. Viele von ihnen stammen aus dem anatolischen Kernland mit überwiegend konservativ-religiösem Lebensstil. Viele Jüngere hätten nur die deutsche Staatsbürgerschaft – für die Wahlberechtigung braucht es aber auch die türkische.

    Ulusoy erklärte, auch bei den Jüngeren gebe es aber mitunter eine Trotzhaltung: Es seien teils verletzende Erfahrungen gemacht worden, dass Türke oder Moslem zu sein, in Deutschland keine große Wertigkeit hätten. Erdogan gelinge es sehr gut, diese Wertigkeit anzuerkennen, ihre Zugehörigkeit zur Türkei zu betonen und ihre Emotionen anzusprechen. Zudem verfüge Erdogan über eine schlagkräftige Organisationsstruktur in Deutschland.

    (Von Gregor Bauernfeind und Marc Herwig, dpa)

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