Die Pupillen wandern von links nach rechts, hüpfen zurück und beginnen wieder zu wandern. Kaum wahrnehmbar ist das Zucken der Augen, aber der Eindruck vermittelt sich intuitiv. Wie immer, wenn Menschen ohne Übung vom Teleprompter ablesen. Und genau das tut Wladimir Putin in jener Fernsehansprache, die am 21. Februar 2022 weltweit über die Bildschirme flimmert. Der russische Präsident liest ab und sagt, dass er etwas ausholen müsse. Er beginnt im Mittelalter, dann springt er ins Revolutionsjahr 1917. Beim Zuhören ist es kaum möglich, dem Gedankengang zu folgen. Bis Putin der ukrainischen Führung einen "aggressiven Neonazismus" vorwirft und ankündigt, die "Volksrepubliken" im Donbass anzuerkennen.
Eine faktische Kriegserklärung. Das ist der Tenor in ersten Blitzanalysen. Und wirklich: Drei Tage später marschieren russische Truppen in der Ukraine ein. Doch der verstörende Auftritt des Kremlchefs wirkt nach. Wie er da schief hinter seinem Schreibtisch hockt. Wie er wirr und verwirrend über die Geschichte der Sowjetukraine doziert und sich dabei in Rage redet. "Ist Putin wahnsinnig geworden?", fragen Medien rund um den Globus und deuten auch das Ambiente des Auftritts. Neben dem Präsidenten stehen gleich vier Festnetztelefone, die Hörer mit Schnur, so wie auch die Computermaus. Gibt es im Kreml kein Smartphone, kein Bluetooth? Stattdessen prangt auf der russischen Flagge der zaristische Doppeladler, in der Klaue das Reichszepter.
Ist das Wahnsinn? Sicher nicht im pathologischen Sinn. Aber es ist so offensichtlich aus der Zeit gefallen, dass die Gefahr, die davon ausgeht, spürbar ist. Da sitzt ein Mann von 70 Jahren, der sich in bizarre Geschichtsdeutungen hineinsteigert. Der sich und sein Land in einer fernen Vergangenheit verortet und im 21. Jahrhundert einen Eroberungsfeldzug führen lässt wie einst die Zaren. Als Kriegspräsident beruft sich Putin auf Peter den Großen, der vor 300 Jahren mit militärischer Macht das Reich vergrößerte und sich zum "Imperator" krönen ließ. Allerdings war Peter ein rastloser Modernisierer, ein Westler noch dazu. Putins Truppen dagegen verlieren in der Ukraine Kampf um Kampf, weil die Armee, das sagen die eigenen Soldaten, "technisch so heruntergekommen ist wie moralisch".
Selenskyj ist ein Mann des digitalen Zeitalters
Und weil auf der anderen Seite ein Mann den Oberbefehl führt, der sich geschmeidig im Hier und Heute bewegt. Einer mit Smartphone, der sich nicht hinter dem Schreibtisch verschanzt, sondern in der zweiten Kriegsnacht hinausgeht auf die Straßen von Kiew und ein Selfievideo dreht. "Der Präsident ist hier, unsere Soldaten sind hier, wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen", sagt Wolodymyr Selenskyj. Mitte 40, mitten im Leben. Wie nebenbei zeigt der ukrainische Präsident, dass die Gerüchte über seine Flucht falsch sind. "Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit", antwortet er, als die Amerikaner ihn doch lieber außer Landes bringen wollen. Heldenmut muss nicht von gestern sein. Die Geschichte kennt viele Beispiele, in denen Präsidenten das Weite suchten. "Wir sind alle hier. Unsere Soldaten sind hier. Die Bürger sind hier. Wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen. Und das wird so bleiben", sagte Selenskyj damals.
Selenskyj, das ist ein 45-Jähriger im militärgrünen T-Shirt, der binnen eines Jahres scheinbar zehn Jahre gealtert ist. Ein Mann, der rund um die Uhr präsent scheint mit Appellen und Bitten um Waffen und Munition. Ein Präsident, dessen Videobotschaften vor den Parlamenten dieser Welt inzwischen auf eine seltsame Art vertraut erscheinen.
Selenskyj nutzt das Konzept der modernen Menschenführung
Natürlich ist auch Show dabei. Selenskyj ist ein erfolgreicher Schauspieler, der genau weiß, wie er seine tiefe Stimme am besten einsetzt und den Blick. Welchen Effekt ein Teleprompter hat und wie freie Rede wirkt. Oder die passende Kleidung. Noch am ersten Kriegstag tauscht er Anzug, Krawatte und Lackschuhe gegen olivgrüne T-Shirts, Militärhosen und Kampfstiefel. Und selbstverständlich kennt Selenskyj seinen Text. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit trifft er den richtigen Ton. Ob er sich allabendlich per Video an seine Landsleute wendet, um Trost zu spenden und Mut zu machen, oder sich in die Parlamente in aller Welt zuschalten lässt. Der Inhalt zählt, doch die Form kann den Unterschied machen.
Vor allem aber ist Selenskyj nicht allein. Er schart Menschen um sich, meist junge Leute, darunter viele Frauen. Er ist ein Teamspieler, kein Selbstherrscher. Moderne Führung, flache Hierarchien: Genau so kämpft auch die ukrainische Armee. Mit erstaunlichem Erfolg. In Kiew, Charkiw und Cherson. Selenskyj ist überall vor Ort. Er besucht Butscha, wo sich nach dem Abzug der Russen die Leichen der Gefolterten stapeln. Und er fährt in das apokalyptisch zerschossene Bachmut. Wie sehr das die Kampfmoral der Truppe stärkt, ist kaum zu ermessen. Aus dem Donbass nimmt er eine Flagge mit nach Washington, wo er sie im US-Kongress übergibt und erklärt: "Dies ist ein Symbol unseres Sieges. Wir halten stand, weil wir geeint sind. Die Ukraine, Amerika und die gesamte freie Welt."
Das ist fast schon oscarreif. Der Auftritt entfaltet aber vor allem deshalb eine solche Strahlkraft, weil er echt ist und eben nicht nur Schau. Weil es in der Ukraine wirklich um alles geht: um das nackte Überleben der Menschen, aber auch um die Zukunft der Nation, die Putin vernichten will. Das gibt der russische Präsident offen zu, und zugleich sagt er den USA und den Europäern den Kampf an: "Woher kommt diese dreiste Art zu sprechen, als wäre man auserwählt, unfehlbar, als wäre einem alles erlaubt?" So fragt Putin Richtung Westen, als er der Ukraine am 24. Februar den Krieg erklärt. Später kommt er immer wieder darauf zurück. In solchen Momenten wirkt der russische Präsident, als wäre er ganz bei sich. Sein Drang zur Vergeltung ist so echt wie Selenskyjs Freiheitswille.
Auch in Russland breitet sich soziale Not aus
Denn es geht Putin um Revanche, eher sogar um Rache. Auch daraus macht er keinen Hehl. Er will vergessen machen, was der Sowjetunion widerfahren ist und damit zugleich Russland: "Die Lähmung von Macht und Willen führten in den Untergang." Putin sieht sich längst in einem großen Krieg gegen ein "Anti-Russland" im Westen – den er als Anführer der Atommacht um jeden Preis gewinnen will. Doch der "Blitzkrieg" für eine Eroberung der Ukraine ist gescheitert. Jahrzehntelang aufgebaute Beziehungen mit dem Westen etwa bei der Gasversorgung Europas sind zerstört. Putin, der sich stets brüstete, das Land nach den chaotischen 1990er Jahren wieder auf die Beine gebracht zu haben, muss zuschauen, wie sein Lebenswerk zusammenbricht, sich erneut soziale Not breitmacht.
Doch ungeachtet tausender Toter in dem Krieg genießt Putin laut Umfragen weiter großes Vertrauen in der Bevölkerung, dass er das Richtige tut. Er sieht – wie er unlängst sagte – den Krieg inzwischen auch als Chance, die Armee zu modernisieren. Schon jetzt gehen die Militärausgaben aber zulasten der Entwicklung der Gesellschaft.
Angesichts der massenhaften Abwanderung junger Menschen, die keine Perspektive unter Putin sehen, spricht der russische Experte Andrej Kolesnikow von einem "zweiten, leisen Krieg Russlands gegen sein menschliches Kapital". Viele würden vor einer "Militarisierung des Lebens" in Russland fliehen, schreibt er in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie. "Für den Staat ist heute das Zerlegen und das Zusammensetzen eines Kalaschnikow-Sturmgewehrs eine wichtigere Fähigkeit." Statt modern denkender Menschen bringe das Land nun folgsame Befehlsempfänger hervor. Aus Sicht des russischen Politologen Abbas Galljamow hat sich der Kremlchef durch immer neue Repressionen auf den Weg eines "Diktators" begeben, der auf Gedeih und Verderb seinen Geheimdiensten und anderen Sicherheitsstrukturen ausgeliefert sei. Putin habe die "goldene Regel" autoritärer Herrschaft vergessen, die Macht zu verteilen, sagt sein früherer Redenschreiber. "Selbst der dümmste General wird dann einmal verstehen, dass er selbst der Stützpfeiler der Macht ist", sagt Galljamow. Lange habe Putin Militär und Polizei selbst kontrolliert, nun sei er deren "Geisel". Nur durch "grobe Gewalt" könne Putin sich noch an der Macht halten.
Das Einzige, was Selenskyj und Putin verbindet, ist ihr Vorname
Immer wieder geht deshalb der Blick zurück. Putins Orientierungsmarken liegen in der Vergangenheit. Selenskyj dagegen blickt in eine ersehnte Zukunft, in der eine freie, demokratische Ukraine der EU beitreten soll. Einmal in diesen Tagen, da greift der Ukrainer dann doch noch ganz tief in die Bücherkiste. Heraus holt er gedanklich das Alte Testament: Als Kampf David gegen Goliath sieht er den Krieg gegen die Ukraine. "Goliath muss verlieren", sagt er. Doch dazu brauche "David" Munition, mit der er seine Steinschleuder füllen kann.
Auch an Selenskyj gibt es Kritik. Unter anderem geht es da um seinen Umgang mit den US-Geheimdienstinformationen und Warnungen vor dem Krieg. Die Gefahr eines Angriff Putins hatte er stets heruntergespielt. Die Folge: Tausende Ukrainer überlebten wegen fehlender Warnungen und rechtzeitigen Evakuierungsmaßnahmen nicht. Der Unterschied zu Putin? In der Ukraine ist es erlaubt, Kritik am Präsidenten zu üben – in Russland sollte man sich Entsprechendes lieber verkneifen.
Und so bleibt das Einzige, was die beiden Präsidenten verbindet, allein der Vorname. Der russische Wladimir und der ukrainische Wolodymyr haben den gleichen ostslawischen Ursprung. "Groß an Macht" sollen Menschen dieses Namens sein. Die Bedeutung ist allerdings unscharf. Denn die Macht kann einem "Beherrscher der Welt" zufallen – oder einem "Fürsten des Friedens". (mit dpa)