Wenn man ihn da so stehen sieht, konfrontiert mit all der Wut, dann ist es schwer vorstellbar, dass dieser Mann noch vor gut einem Jahr Deutschlands populärster Politiker gewesen ist. Am Montag spricht Cem Özdemir zu den Bauern, die sich am Brandenburger Tor versammelt haben, vielmehr: Er versucht, sich Gehör zu verschaffen. Seit die Regierung angekündigt hat, den Landwirten die Zuschüsse zum Diesel und die Befreiung von der Kfz-Steuer für Nutzfahrzeuge zu streichen, kocht die Bauernseele. Und der Minister, das kann man an diesem Tag so sagen, steht seinen Mann.
Cem Özdemir will noch etwas für die Bauern herausschlagen
Özdemir, der als Redner durchaus mal aus der Haut fahren kann, lässt sich von der aufgeheizten Atmosphäre nicht anstecken. Er verspricht den Landwirten, für sie zu kämpfen, um das Schlimmste abzuwenden. Glauben will ihm das in diesem Moment niemand. Doch inzwischen verdichten sich die Anzeichen, dass er tatsächlich noch etwas für die Bauern herausschlagen könnte. Zwei Tage nach der Demo machen Gerüchte die Runde, dass zumindest kleinere Betriebe mit bis zu 80 Hektar weiterhin Zuschüsse bekommen sollen. Auch eine Deckelung für vergünstigten Agrardiesel auf eine bestimmte Liter-Zahl ist denkbar.
Es wäre zumindest ein Teilerfolg für Özdemir, der die Fähigkeit zum Kompromiss nie als Schwäche empfunden hat. Das Amt des Bundeslandwirtschaftsministers hat sich der 57-Jährige nicht ausgesucht, so viel ist sicher. Der Job ist hart genug, aber ein grüner Vegetarier als Ansprechpartner für die Bauern? Da kann man schon mal von erschwerten Bedingungen reden. Doch es ist gut möglich, dass dieser Job nicht das Ende seiner Karriere ist.
Sicher, Özdemir steht nicht an der Spitze der Grünen, und auch im Kabinett ist Vizekanzler Robert Habeck der starke Mann. Doch in einer Partei, der noch immer gewisse Schwächen im Fach Realpolitik nachgesagt werden, ist Özdemir ein Garant für halbwegs solides Regierungshandwerk. Nach dem Debakel um das Heizungsgesetz ist das ja schon mal was.
Seine Ernennungsurkunde holte er mit dem Fahrrad ab
Den Weg des geringsten Widerstands ist der Schwabe nie gegangen. Schon in seiner Zeit als Parteichef versuchte er, zwischen Fundamentalisten und Realos zu moderieren und trug dazu bei, dass die Grünen auch im bürgerlichen Lager wählbar geworden sind. Er isst kein Fleisch, will andere aber nicht bekehren. Er klemmt die Ernennungsurkunde vom Bundespräsidenten auf den Gepäckträger seines Fahrrads, führt aber keinen Feldzug gegen das Auto. Und: Er ist keiner von denen, die sich wegducken, wenn es darauf ankommt. Das zeigt sich nicht nur an diesem Montag vor dem Brandenburger Tor.
Ein Blick zurück in den Sommer: In Bayern steht die Landtagswahl bevor, CSU und Freie Wähler haben die Grünen zum Hauptgegner ernannt. Die Debatte um das Heizungsgesetz eskaliert. Kein idealer Zeitpunkt für eine Tour durch die Bierzelte. Bei einem Auftritt am Chiemsee bekommt Özdemir den geballten Frust ab. In Freising geht es etwas gesitteter zu. Die Polizei hat das Festzelt weiträumig abgesichert, drinnen spielt die Kapelle kubanische Rhythmen statt Defiliermarsch, aber das ist fast schon der einzige Hinweis darauf, dass das hier eine Veranstaltung der Grünen ist.
Die Zuhörer, das sind Biolandwirte und junges Bürgertum, einige Hundert, auch Bauern-Funktionäre bekommen eine Bühne. Dann großer Applaus, Özdemir ist da - und dankt erst einmal der Polizei. Wieder Beifall. Der Landwirtschaftsminister bietet Markus Söder seine Zusammenarbeit an, den Anti-Grünen-Kurs des Ministerpräsidenten blendet er einfach aus.
Bürgerlicher, das zeigt dieser laue Sommerabend in Freising, bürgerlicher als die Özdemir-Grünen kann man gar nicht sein. Und genau das macht diesen Mann ja so gefährlich für die Konservativen. Kein Wunder, dass die Spekulationen nicht enden, die ihn als Nachfolger von Winfried Kretschmann 2026 im Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg sehen.
Anfeindungen kontert Cem Özdemir gerne in breitem Schwäbisch
An Rückhalt fehlt es ihm nicht zu Hause. Bei der Bundestagswahl holte er in seinem Wahlkreis souverän das Direktmandat. Özdemir, dessen Vater in den 60ern aus der Türkei in das Städtchen Bad Urach kam, betont oft seine Heimatverbundenheit. Und doch muss er sich bis heute mit Anfeindungen wegen seiner türkischen Wurzeln herumschlagen, die er gerne mit einem Augenzwinkern in breitem Schwäbisch kontert. Als AfD-Anhänger beim politischen Aschermittwoch einmal "Abschieben, Abschieben!" brüllen, als die Rede auf Özdemir kommt, kontert er trocken, man könne ihn ja gerne in seine Heimat zurückschicken - nach Bad Urach.
Mit seiner pragmatischen Art ist der Grüne zweifellos anschlussfähig für CDU und CSU. Mitte November, beim Flurfest der Augsburger Allgemeinen in der bayerischen Landesvertretung in Berlin treffen sich Politik und Medien. Der Zufall will es, dass Özdemir und CDU-Chef Friedrich Merz sich am Eingang begegnen. Recht unterschiedlicher Stimmung sind die beiden. Einen Tag zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht die Umwidmung von Coronamitteln für den Klimafonds für nichtig erklärt und so den Haushalt der Regierung gekippt. Noch lässt sich nur erahnen, welche Folgen das haben wird. An eine Bauernrevolte denkt noch keiner. Die zwei Politiker stehen zusammen, beide haben den Höhepunkt ihrer Karriere womöglich noch vor sich. Ministerpräsident der eine, Kanzler der andere - so könnte es kommen. Aber wer weiß das schon?
Eine Begegnung mit Friedrich Merz auf Augenhöhe
Im Hier und Jetzt geht es um den Haushalt. Small Talk im politischen Berlin – oder doch mehr? Özdemir gibt, wie so oft, den Moderator, lotet aus, ob und wo die CDU der Ampel entgegenkommen würde. Ohne Geheimnisse aus dieser fast schon privat anmutenden Begegnung zu verraten, kann man festhalten, dass der Grüne die Union recht offensiv auffordert, jetzt nicht in Fundamentalopposition zu verfallen, sondern staatspolitisch Verantwortung zu übernehmen. Sprich: der Regierung aus der Patsche zu helfen. Merz lässt Özdemir freundlich, aber bestimmt abblitzen. Was aber auch klar wird in dieser kurzen Begegnung: Da begegnen sich zwei auf Augenhöhe. Zwei, die miteinander könnten. Auch in Zukunft?
Erst einmal muss Özdemir die Gegenwart bewältigen. Und die heißt Haushaltskrise, Agrardiesel, Bauernaufstand.