Es ist 1966, Berlin noch gezeichnet von den Bomben und Folgen des Nationalsozialismus. Eine junge Türkin reist mit dem Zug von Istanbul in die Stadt. In ihrem jüngsten Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ taucht Emine Sevgi Özdamar ein in die Welt abseits gesicherter bürgerlicher Pfade, in einen Raum zwischen Bedrohung und Geborgenheit.
Büchnerpreistägerin Emine Sevgi Özdamar: "Meine türkischen Wörter waren krank"
Es war das Berlin, das auch Özdamar in den 60er Jahren kennenlernte. 18-jährig kam die aus Istanbul stammende Autorin nach Deutschland. Nach einem kurzen Intermezzo als Arbeiterin in einer Elektrofabrik kehrte sie jedoch zurück. Sie besuchte die Schauspielschule und wurde zu einem Teil der Alt-68er, die die türkischen Metropolen aufmischten. Als das Morden kein Ende nahm, griff 1971 das Militär ein und Özdamar verließ wie viele Intellektuelle ihrer Generation das Land. „Meine türkischen Wörter waren krank“, erklärte sie im Gespräch während ihres Besuchs auf dem diesjährigen Brechtfestival. „Die Sprache veränderte sich. Die Wörter lagen im Staub. Ich musste gehen.“
1976 kam sie an die Volksbühne in Ostberlin, arbeitete in Paris und wieder in Berlin. Die Anstellung bei Claus Peymann am Schauspielhaus Bochum in den 1980ern, sagte sie, war die beste Zeit. „Die Leute waren politisiert und sie wollten Theater, waren heiß auf die Debatten.“ Vor allem Brecht inspirierte sie in ihren Stücken und Romanen. „Vielleicht hatten wir Brecht nötiger als ihr, wir wollten dialektisches Denken lernen. Und Brecht hat den Faschismus körperlich erlebt. Das verbindet uns.“
Emine Sevgi Özdamar verkörpert das von Kriegen und Migration gezeichnete Europa
Özdamar und ihre Figuren sind nah an den Menschen, an den Arbeitern, Einwanderern, Obdachlosen, Nutten der Städte. Wie kaum eine andere zeitgenössische Autorin verkörpert sie das von Faschismus, Kriegen und Migration gezeichnete Europa der letzten 50 Jahre. In einem beständigen Flow sammelt sie die großen politischen Linien, vor allem aber die individuellen Folgen dieses an Gewalt reichen Jahrhunderts ein. Ihre auf Deutsch erscheinenden Romane und Theaterstücke wurden vielfach ausgezeichnet, angefangen 1991 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis. Zuletzt erhielt sie 2021 den Bayerischen Buchpreis für „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Jetzt wird ihr Werk mit dem Büchner-Preis, der höchsten literarischen Auszeichnung in Deutschland, gekrönt.