Regierungskrisen gab es schon lange vor den Dauerreibereien der Ampelparteien. Vor fünf Jahren musste etwa CDU-Kanzlerin Merkel ein vorzeitiges Ende ihrer Großen Koalition fürchten: „Nikolaus ist Groko-Aus“ frohlockten die Jusos um ihren damaligen Vorsitzenden Kevin Kühnert, nachdem es ihnen gelang, die Koalitionskritiker Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu den neuen Parteichefs zu machen. Doch am Ende rauften sich Union und SPD zusammen. Und wenig später ließen die Sorgen der Coronapandemie alle Spekulationen um vorgezogene Neuwahlen verstummen.
Doch das jetzige, mit einem harten wirtschaftspolitischen Forderungskatalog unterfütterte Ultimatum von FDP-Chef Christian Lindner, dass es in der Ampel einen „Herbst der Entscheidungen“ geben müsse, reißt tiefe Risse in das Regierungsbündnis. Seit Langem fordern Unionspolitiker wie CSU-Chef Markus Söder Neuwahlen im Bund. Doch was vor Monaten noch nach parteitaktischer Polemik klang, wirkt spätestens seit Lindners „Wirtschaftswende“-Papier im Bereich des Möglichen.
Erst dreimal vorgezogene Neuwahlen in der Bundesrepublik
Erst drei Mal gab es in der Geschichte der Bundesrepublik vorgezogene Neuwahlen: Willy Brandt stellte im September 1972 als erster Bundeskanzler überhaupt die Vertrauensfrage. Im Streit um die Ostpolitik liefen mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete seiner Koalition zur Opposition über: Die vorgezogene Wahl zwei Monate später wurde mit 45,8 Prozent zum bislang größten Triumph der Sozialdemokraten. Die anderen vorgezogenen Neuwahlen 1983 und 2005 besiegelten dagegen das Ende sozialdemokratischer Kanzlerschaften: Helmut Schmidt wurde schon im Herbst 1982 gestürzt, nachdem sein Koalitionspartner FDP zur Union floh. Und Gerhard Schröder verlor gegen Angela Merkels Union.
Die verfassungsrechtlichen Hürden für Neuwahlen sind hoch: Nach den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik hat der Bundestag kein Selbstauflösungsrecht und ein Bundeskanzler kann nur durch ein sogenanntes „konstruktives“ Misstrauensvotum gestürzt werden. Das bedeutet, im Parlament muss es eine Mehrheit für einen sofortigen Amtsnachfolger geben. Erst einmal gelang dies, als CDU-Chef Helmut Kohl mithilfe der FDP den SPD-Kanzler Schmidt stürzte. Auslöser war auch damals ein Wirtschaftspapier des damaligen FDP-Ministers Otto Graf Lambsdorff.
Vorgezogene Neuwahlen? Auf den Kanzler kommt es an
Kohl wählte ebenso wie später Schröder den Weg über das Mittel der Vertrauensfrage, um Neuwahlen zu erreichen. Obwohl beide Kanzler eine solide Regierungsmehrheit hatten, ließen ihre Fraktionen die Regierungschefs dennoch durchfallen: Bis heute sind solche „unechten“ Vertrauensfragen umstritten. Im Fall Schröder landete der Fall vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Mehrheit der Karlsruher Richter gestand aber dem Bundeskanzler die Macht zu, in politischen Krisensituationen Neuwahlen erzwingen zu dürfen, und stärkte damit das bundesdeutsche System der sogenannten „Kanzlerdemokratie“.
Das bedeutet auch im Fall der Ampel: Auf den Kanzler kommt es an. Sollte SPD-Amtsinhaber Olaf Scholz und seine Partei nach einem möglichen Ausstieg der FDP keine Neuwahlen wollen, könnte ihn niemand zwingen, die Vertrauensfrage zu stellen. Scholz könnte beispielsweise auch die Grünen-Minister entlassen und der Union, ähnlich wie bei seinen Anläufen für einen „Deutschlandpakt“, eine Zusammenarbeit bis zur Bundestagswahl anbieten. Stürzen könnte ihn in diesem Fall ohne AfD-Hilfe nur eine Jamaika-Mehrheit aus Union, FDP und Grünen, die dann wohl Friedrich Merz zum Kanzler wählen müsste.
Bundespräsident Steinmeier gilt als kein Freund von Neuwahlen
Und selbst wenn Scholz bei einem Bruch der Ampelkoalition den Weg für Neuwahlen mit einer dann „echten“ Vertrauensfrage frei machen wollte, liegt am Ende die Entscheidung bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Der frühere SPD-Außenminister hatte schon 2017 beim Scheitern der damaligen Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition deutlich gemacht, dass er kein Freund vorzeitiger Neuwahlen ist.
Nachdem FDP-Chef Lindner („Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“) die Jamaika-Sondierungen platzen ließ, nahm Steinmeier die Spitzen von CDU, CSU und SPD solange ins Gebet, bis am Ende die von allen ungeliebte Große Koalition ein weiteres Mal stand. Auch in den vergangenen Monaten predigte Steinmeier in Reden und Interviews, die Zusammenarbeit der großen demokratischen Parteien. Nicht ausgeschlossen also, dass das Staatsoberhaupt erneut SPD und Union an einen Tisch drängt.
Sollten sich aber alle einig sein, die Bundestagswahl vorzuziehen, gilt der 2. März als wahrscheinlicher Termin. Dann finden in Hamburg zeitgleich Landtagswahlen statt. Um den Fristen gerecht zu werden, dürfte der Kanzler nicht vor dem 10. Dezember im Bundestag die Vertrauensfrage stellen.
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