Als "eine Art Freiluftlabor" bezeichnet die Analystin Joanna Maria Stolarek, Leiterin des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, den polnischen Staat in diesen Tagen. Das Experiment" ist die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, die von der ehemaligen Regierungspartei PiS in acht Jahren an der Macht demoliert wurde. "Forschungsleiter" ist die neue polnische Regierung um Donald Tusk – deren Aufgabe kaum schwerer sein könnte. Denn zum einen muss sie sich selbst an die demokratischen Regeln halten, während sich PiS-beeinflusste Staatsorgane ihr in den Weg stellen. Zum anderen erwarten ihre Anhänger schnelle Ergebnisse – zwei Ansprüche, die eigentlich nicht zusammengehen.
In den Tagen nach seinem Amtsantritt im Dezember gab Donald Tusk der Geschwindigkeit den Vorzug. Handstreichartig entließ sein Kulturminister die Vorstände der öffentlichen Medien, die unter der PiS zu Propaganda-Sendern der Partei geworden waren. Während die Maßnahme von vielen Regierungsanhängern beklatscht wurde, rief die PiS umgehend zu Protesten auf und warf der Regierung einen "Staatsstreich" gegen die Pressefreiheit vor.
PiS wirft der Regierung einen Staatsstreich vor
Doch auch neutrale Stimmen übten Kritik. So meldete die NGO Helsinki Foundation for Human Rights rechtliche Bedenken an. Denn die Regierung agierte mit einem Parlamentsbeschluss und umging sowohl den Präsidenten als auch den "Nationalen Medienrat" – ein von der PiS eingeführtes und parteiisches Gremium, das allerdings formell zuständig gewesen wäre. "Von einem Staatsstreich sind wir in Polen natürlich weit entfernt. Aber die PiS beschwert sich nicht ganz zu Unrecht", sagt Bartosz Rydlinski, Politikwissenschaftler an der Warschauer Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität. Er verstehe das Bestreben, der PiS schleunigst die Möglichkeit zu nehmen, auf Kosten des Steuerzahlers Parteiwerbung zu senden. Dennoch betrachtet er das voreilige Vorgehen als Fehler, denn Kritiker der Regierung hätten es nun leicht, gleich ihre erste Amtshandlung als "illiberal, populistisch und rechtlich fragwürdig" abzutun.
Allerdings sind sich die meisten Beobachter einig, dass die neue Regierung praktisch kaum eine andere Möglichkeit gehabt hätte. Der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda und das von der PiS politisierte und in Teilen unrechtmäßig besetzte Verfassungsgericht können Gesetzesvorhaben stoppen. Beide Organe machen keinen Hehl daraus, der neuen Regierung so viele Steine wie möglich in den Weg legen zu wollen. Außerdem hatte die PiS kurz vor ihrer Abwahl noch Gesetze eingeführt, die eine Rücknahme ihrer Staatseingriffe zusätzlich erschweren. Somit bleibt der Regierungskoalition nur das Vorgehen über Parlamentsbeschlüsse und juristische Schlupflöcher – oder Stillstand. "Die Situation ist für alle Beteiligten neu und es gibt keine vergleichbaren Fälle und fertigen Rezepte, auf die man zurückgreifen kann", sagt Joanna Maria Stolarek.
Tusk kündigt radikale Schritte an
Erschwerend kommt hinzu, dass die konservative PiS in der Opposition jeden Fehler der Regierung nutzt, um ihr Narrativ von einer "pro-deutschen Diktatur" Tusks weiterzuspinnen. Im April stehen Kommunalwahlen an, deswegen setzt die PiS auf die Emotionalisierung ihrer Kernwähler. Für Samstag hatte die Partei von Jaroslaw Kaczynski zum zweiten Mal zum "Protest der freien Polen" aufgerufen.
Die Regierung zeigt sich von der Kritik unbeeindruckt und verteidigt ihr Vorgehen. Einmalige radikalere Schritte seien nun mal nötig, um den Staat zu "entpolitisieren". Ein Urteil des Verfassungsgerichts, wonach der Schlag gegen die öffentlichen Medien illegal war, ignorierte die Regierung und zweifelte vielmehr die Legitimität des Urteils an. Es zeichnet sich ab, dass Polen auf eine Art duales Rechtssystem zusteuert – in dem die politischen Lager sich jeweils an unterschiedlichen Gerichten orientieren und es keine neutrale Vermittlerinstanz mehr gibt. So beharrt die PiS etwa auf der Unschuld der verurteilten Ex-Abgeordneten Maciej Wasik und Mariusz Kaminski und fordert deren Rückkehr ins Parlament. Andrzej Duda hatte die beiden zwar begnadigt, ihren Status als Abgeordnete haben sie dennoch verloren – was wiederum PiS-nahe Gerichte anzweifeln.
"Das Opfer von Chaos in der Judikative wäre die polnische Gesellschaft", sagt Bartosz Rydlinski. Der Politikwissenschaftler bemängelt, dass in der aktuellen Debatte eine wichtige Gruppe aus dem Blick gerate: diejenigen, die sich im Dauerkampf zwischen Donald Tusk und Jaroslaw Kaczynski nicht auf eine Seite ziehen lassen wollen und vielmehr endlich ein Ende des politischen Streits wollen. "Die Mehrheit in Polen ist nicht auf politische Rache aus. Sie wollen eine effiziente Regierung und gute öffentliche Versorgung."
Verfassungsgericht in Polen bremst die Regierung aus
Wichtige politische Projekte drohen beim anstehenden Gezerre um das Verfassungsgericht und den Protesten der PiS auf der Strecke zu bleiben. Den Ende Januar verabschiedeten Haushalt, der unter anderem höhere Löhne für Lehrer vorsieht, hatte Andrzej Duda zwar unterzeichnet, aber parallel dem Verfassungsgericht vorgelegt – mit ungewissem Ausgang. Manche befürchten, dass das Verfassungsgericht jede Parlamentsentscheidung als illegal einstufen wird, solange Wasik und Kaminski nicht in den Sejm zurückkehren.
Sollte das Land im politischen Stillstand enden, würden Rydlinski zufolge viele Wähler die Regierung verantwortlich machen. Für kommende Wahlen sieht er die Möglichkeit, dass sich viele von den etablierten Parteien abwenden – oder dass die PiS zurückkommt, diesmal rigoroser denn je. Auch Joanna Maria Stolarek befürchtet eine Radikalisierung vieler Wähler, sollte es der Regierung nicht gelingen, das Land zu vereinen. Das Demokratie-Experiment im Freiluftlabor Polen kann nicht nur scheitern – im schlimmsten Fall kann es nach hinten losgehen.