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Pflegefamilien: Es braucht mehr Pflegefamilien – doch die Bedingungen bringen sie an ihre Grenzen

Pflegefamilien

Es braucht mehr Pflegefamilien – doch die Bedingungen bringen sie an ihre Grenzen

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    Sollen Kinder den Familiennamen ihrer Pflegeeltern annehmen, so ist dies nur nach einer persönlichen Anhörung der nicht sorgeberechtigten Eltern möglich.
    Sollen Kinder den Familiennamen ihrer Pflegeeltern annehmen, so ist dies nur nach einer persönlichen Anhörung der nicht sorgeberechtigten Eltern möglich. Foto: Patrick Pleul, dpa (Symbolbild)

    „Ich kann derzeit niemandem mit gutem Gewissen empfehlen, ein Pflegekind aufzunehmen“, sagt die alleinerziehende Pflegemutter Erika* unvermittelt. Und setzt einen Atemzug später zu einer langen Erklärung an: Sie erzählt von einem Jugendamt, das sie gleichzeitig bevormundet und allein lässt. Vom Klassenlehrer, der ihren Pflegesohn nicht am Nachmittagsunterricht teilnehmen lässt. Und von Noah*, der alle zwei Jahre denselben beschämenden Prozess über sich ergehen lassen muss, um seine angeborene Behinderung erneut bescheinigen zu lassen.

    Erika schüttelt resigniert den Kopf. „Ich bin seit zehn Jahren Mama und komme täglich an meine Grenzen. Nicht wegen Noah, sondern wegen der nervenraubenden Vorschriften.“ Es geht vor allem um Anträge für spezielle Therapien, Unterstützung in der Schule oder finanzielle Zuschüsse. Jedes Jahr aufs Neue. Doch Erika ist auf all diese Hilfen angewiesen, der zwölfjährige Noah ist aufgrund seiner Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) beeinträchtigt: Entwicklungsstörungen, Merk- und Lernschwierigkeiten, eingeschränkte Impulskontrolle, gestörtes Sozialverhalten.

    Es fehlen tausende Pflegefamilien

    FASD entsteht, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol trinkt. Bei Noah griff das Jugendamt ein Jahr nach der Geburt ein, seither wächst er nicht mehr bei seiner eigentlichen Familie auf. Damit zählt Noah zu einem der rund 215.000 Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die im vergangenen Jahr in einem Heim (128.000) und in einer Pflegefamilie (87.000) betreut wurden. Bei zehn Prozent handelt es sich um junge Menschen, die ohne eine Begleitperson nach Deutschland flüchteten. Demnach war der Hauptgrund für ein Heim oder eine Pflegefamilie laut dem Statistischen Bundesamt in 30 Prozent aller Fälle der Ausfall der Bezugsperson. Mit Abstand an zweiter Stelle stand 2023 die Gefährdung des Kindeswohls. Dritthäufigster Grund war eine eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern.

    Ulrike Schulz, Vorsitzende des Bundesverbands der Pflege- und Adoptivfamilien, schätzt, dass jedes Jahr etwa 4000 Pflegefamilien fehlen- für viele Kinder bleibt somit das Heim die einzige Möglichkeit. Pflegevater Andreas*, eine andere Familie aus dem Unterallgäu, nahm daher oft drei bis vier Kinder zur selben Zeit auf. Derzeit kümmern sich Andreas und seine Frau, eine gelernte (Heim-)Erzieherin, um einen Pflegesohn. Obwohl das Paar seit 30 Jahren Kinder in ihre Obhut nimmt, wird der nun Elfjährige das letzte Pflegekind sein. Neben ihrem fortgeschrittenen Alter um die 70 Jahre seien die äußerst unbefriedigenden Rahmenbedingungen der Grund.

    Kaum Zeit für die Partnerschaft

    Zeit, um die Partnerschaft zu pflegen, bleibe im Alltag kaum übrig. Sind die Kinder vormittags in der Schule, müssen Berichte oder Anträge geschrieben werden. Sind die Kinder nachmittags zu Hause, müssen sie durchgehend betreut werden. Eine Vollzeitaufgabe, da Pflegekinder keine leichten Kinder sind. Andreas kennt viele Pflegeeltern, deren Beziehung aufgrund der hohen Belastung auseinandergegangen sei. Er wünscht sich die Möglichkeit einer bezahlten Auszeit oder einer Betreuung für ein paar Stunden.

    Pflegeeltern sind per Pflegevertrag fest an das Jugendamt gebunden. Im Gegensatz zur Adoption, wo die leiblichen Eltern ihr Sorgerecht freiwillig abgeben, werden die Schützlinge von den Behörden aus einem problematischen Umfeld geholt. Daher bleibt auch das Sorgerecht den leiblichen Eltern erhalten, die Pflegeeltern dürfen lediglich über Angelegenheiten des täglichen Lebens, der sogenannten Alltagssorge, entscheiden. Für Andreas als Pflegevater sind somit Elternabende erlaubt, eine Entscheidung über die weiterführende Schule nicht. Die leiblichen Eltern behalten ein Umgangsrecht, sie können den Kontakt per Gesetz erzwingen.

    Die leiblichen Eltern mischen mit

    Andreas kann diese Form der gesetzlichen Regelung nur schwer verstehen: „Pflegekinder sind keine Scheidungskinder. Warum werden die Eltern nicht zunächst verpflichtet, fehlende Erziehungskompetenz zu erwerben? So bergen die Treffen für die Kinder stets die Gefahr einer Retraumatisierung.“ Gerade bei besagten Umgangskontakten wird laut Andreas das Kindeswohl häufig zugunsten des Elternrechts missachtet.

    Eine weitere Stellschraube, die die Rahmenbedingungen verbessern könnte, sei die finanzielle Anerkennung. Andreas erklärt: „Wir sind Dienstleister der öffentlichen Jugendhilfe und üben in dieser Funktion eine berufsähnliche Tätigkeit aus. Wir tun dies 365 Tage im Jahr, ohne Wochenende, Urlaub oder bezahlte Krankheitstage.“ Vergütet wird die Betreuung mit einem Pflegegeld, welches je nach Bundesland und Kommune bei etwas über 1000 Euro monatlich liegt. Einberechnet ist hierbei der Unterhalt des Kindes, ein kleines Taschengeld sowie eine Pauschale von 60 Euro für Sonderanschaffungen. Für die Eltern sind 350 Euro für den Erziehungsaufwand und ein Beitrag zur Altersvorsorge von 50 Euro vorgesehen.

    Zu wenig Geld für Pflegefamilien

    Dies ist insgesamt zu wenig, sagt Andreas: „Es wäre sicherlich einfacher, Pflegefamilien zu rekrutieren, wenn eine deutlich höhere Vergütung geboten wird. Selbst wenn jeder Familie zusätzlich der dreifache Betrag für den Beziehungsaufwand bezahlt wird, ist eine Heimunterbringung teurer.“ Auch der Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien fordert ein zusätzliches Pflegeelterngeld. Schulz erklärt: „Wer sich um Pflegekinder kümmert, muss sich auf weniger Einkommen und Rentenleistungen einstellen.“

    Für die Pflegeeltern gibt es zwar Elternzeit, aber kein Elterngeld. Das will der Bundesrat ändern: mit den Stimmen aller Länder forderte der Rat die Bundesregierung erst Ende Oktober dazu auf, einen Anspruch auf Elterngeld gesetzlich zu verankern. Mit der Umsetzung könnte es insbesondere nach dem Ampelsturz noch dauern. Es gibt keine Fristen, bis wann sich die neue Regierung mit dem Thema beschäftigen muss.

    Mit der finanziellen Benachteiligung hat sich Pflegemutter Erika abgefunden. Sie kämpft mit der fehlenden Wertschätzung und mangelnden Unterstützung seitens der Behörde. „Es ist klar, dass mein Sohn aufgrund seiner Behinderung gesonderte Unterstützung benötigt. Trotzdem stelle ich für alles einen Einmalantrag.“ Was ihr helfen würde? „Eine feste Person als Ansprechpartner für alles. Wo ich einfach anrufen und um Unterstützung bitten kann. Und nicht erst einen Papierstapel ausfüllen muss.“

    * Namen von der Redaktion geändert

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