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Pflege: Die Zahl der Pflegefälle wird steigen – und die Versicherung teurer

Pflege

Die Zahl der Pflegefälle wird steigen – und die Versicherung teurer

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    Karl Lauterbach: "Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern."
    Karl Lauterbach: "Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern." Foto: Marijan Murat, dpa

    Der Medizinische Dienst erwartet einen weiteren deutlichen Anstieg der Pflegefälle in Deutschland wegen der Zunahme von Demenz-Erkrankungen. „Schätzungen zufolge wird sich die Anzahl von Menschen mit Demenz in Zukunft weiter stark erhöhen, sollte kein Durchbruch in Therapie und Prävention erzielt werden“, sagte die stellvertretende Bundesvorstandsvorsitzende Carola Engler unserer Redaktion. Die Gutachter der Pflegekassen hätten im vergangenen Jahr 160.000 Erstanträge mehr bearbeiten müssen als im Vorjahr.

    „Im Jahr 2023 haben wir einen deutlichen Zuwachs der Erstanträge von 1,19 Millionen auf 1,35 Millionen gesehen“, sagte Engler. Dies bedeute ein Plus von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. „Dieser Zuwachs fand über alle Altersgruppen statt, aber er lässt sich nicht auf die Baby-Boomer begrenzen“, erklärte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinische Dienstes Bund. „Was die Ursachen für diesen Anstieg sind, ist derzeit noch unklar“, betonte Engler. Allerdings würden sich dabei auch die große Pflegereform von 2017 auswirken.

    Mit Baby-Boomer werden Antragszahlen bald weiter steigen

    Seit der Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade würden psychische und kognitive Beeinträchtigungen wie zum Beispiel bei Demenz bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit deutlich stärker berücksichtigt. „Das war ein ausdrückliches Ziel der Reform“, betonte Engeler. „Mit steigender Lebenserwartung steigt auch die Zahl derjenigen Menschen, die im Laufe ihres Lebens an der „Alterskrankheit“ Demenz erkranken, ebenfalls an“, erklärte sie. Die Bevölkerungsentwicklung wirke sich zudem auch auf andere Bereiche aus. „In Folge des demografischen Wandels beobachten wir einen stetigen Anstieg der Leistungsempfängerzahlen“, sagte Engler. Entsprechend führe der medizinische Dienst mehr Begutachtungen durch. „Mit den besonders starken Jahrgängen der sogenannten Baby-Boomer werden die Antragszahlen in den kommenden Jahren noch einmal merklich ansteigen“, sagte Engler voraus.

    Die Bundesvizechefin des Medizinischen Diensts betonte, es sei zudem unklar, ob der starke Anstieg 2023 nur ein Ausreißer etwa als Spätfolge der Coronapandemie sei. „Über mögliche Sondereffekte lässt sich aktuell nur spekulieren“, sagte Engler. „Fakt ist, dass das Begutachtungsverfahren seit 2017 nicht verändert worden ist“, betonte sie. „Während der Pandemie und seit November 2024 hat der Medizinische Dienst die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen strukturierte Telefon- und Videointerviews ergänzend zum Hausbesuch durchzuführen“, erklärte Engler. Die Begutachtung selbst, die Kriterien und Voraussetzungen für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit seien dabei unverändert. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Einführung neuer Formate einen Einfluss auf die Steigerung der Leistungsempfängerzahlen hat“, erklärte Engler..

    Die Pflegeversicherung droht teurer zu werden

    Bürger und Arbeitgeber müssen sich auf weiter steigende Beiträge zur Pflegeversicherung einstellen. „Klar ist, dass wir mittel- und längerfristig eine solidere Form der Finanzierung der Pflege benötigen“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland und ergänzte: „Mit dem jetzigen Beitragssystem allein werden wir das Leistungsniveau der Pflege nicht erhalten können.“ Der Sozialverband Deutschland warnte indes davor, die Pflegebeiträge noch weiter zu erhöhen. „Die Menschen sind erst recht in Zeiten von Kostenexplosionen schon lange am Limit - auch was die Sozialabgaben angeht“, sagte SoVD-Chefin Michaela Engelmeier unserer Redaktion.

    Lauterbach sprach von einem „explosionsartigen“ Anstieg der Pflegebedürftigen. Statt der erwarteten 50.000 habe es im letzten Jahr ein Plus von mehr als 360.000 gegeben, sagte der SPD-Politiker. Eine Ministeriumssprecherin erklärte, die Zahl 50.000 sei eine Prognose, „die wir aufgrund der demografischen Entwicklung anstellen“. 

    Lauterbach verrechnet sich

    Lauterbach hat sich offenbar vertan. Der GKV-Spitzenverband erklärte, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen seit 2017 jedes Jahr im Schnitt um rund 326.000 steige. 2023 gab es demnach einen überdurchschnittlichen Zuwachs um 361.000 Pflegebedürftige. Mithin ein Plus von 35.000, nicht von 360.000 Pflegebedürftigen. 

    Die großen Fachverbände warnen schon lange vor dem Pflegekollaps. „Die Versorgungssicherheit in der Langzeitpflege ist akut gefährdet“, schlug beispielsweise die Diakonie im vergangenen Jahr Alarm. SoVD-Vorstandschefin Engelmeier ergänzte, die Notlage gelte „sowohl für den stationären Bereich, aber auch für die rund 80 Prozent aller Pflegebedürftigen, die von An- und Zugehörigen versorgt werden“ .

    Pflegebeitrag muss steigen

    Der Beitrag zur Pflegeversicherung liegt bei 3,4 Prozent des Bruttoeinkommens beziehungsweise bei 4 Prozent für Kinderlose und hat sich seit 2005 verdoppelt (Arbeitgeber zahlen 1,7 Prozent). Eigentlich sollte das bis 2025 stabil bleiben, doch Experten halten das für unrealistisch. Bereits in diesem Jahr sei eine Beitragssteigerung wahrscheinlich, warnte etwa kürzlich die DAK und verwies auf deutliche Finanzierungslücken für das vierte Quartal 2024. 

    Beitragserhöhungen vor einer Bundestagswahl drücken jedoch auf die Stimmung, und so ist derzeit noch unklar, ob die Ampel-Koalition diesen Weg wirklich wagt. Lauterbach hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die ihren Bericht Ende Mai finalisieren wird, wie seine Sprecherin erklärte. Der Minister zeigte sich allerdings skeptisch. Eine „umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein“, sagte er im RND-Interview. 

    Grüne wollen faire Regelung: "Unvermögen der Ampel"

    Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Tino Sorge, sprach daraufhin von einer „Bankrotterklärung in der Pflegepolitik“. Wenn Lauterbach eine Reform von der nächsten Bundesregierung fordere, „gibt er damit das Unvermögen der Ampel zu“, meinte der CDU-Politkern. Die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) erklärte: „Diese Kapitulation Lauterbachs ist unverantwortlich.“ 

    Die Grünen im Bundestag gingen vorsichtig auf Distanz zu Lauterbachs Äußerungen. „Wichtiger als persönliche Einschätzungen oder Momentaufnahmen“ sei eine zeitnahe Vorlage der Arbeitsgruppen-Ergebnisse, sagte Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink. Für eine gerechte und verlässliche Finanzierung der Pflege sei es unter anderem erforderlich, sachfremde Leistungen wie die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus Steuermitteln zu finanzieren. 

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