Die Frau unter dem Galgen blickt starr auf den vor ihr baumelnden Strick. Der Schatten ihrer weißen Haube verdeckt das Gesicht. Um sie herum hält die Menge mit ihren erhobenen Fahnen einen Augenblick inne. In ihrer rot-weißen Tracht braucht die als Dienstmagd aus der Fernsehserie „The Handmaid's Tale“ verkleidete Demonstrantin keinen Lautsprecher und kein Banner. Jeder, der an diesem Samstagabend an dem Galgen in der Tel Aviver Kaplanstraße vorübergeht, versteht ihre Botschaft.
Seit Januar schon sind Woche für Woche hunderte Israelinnen mit rotem Gewand, weißer Haube und gesenktem Blick Teil der Massenproteste in den Straßen Tel Avivs, Haifas und anderer Städte. Die als Seriendienstmägde verkleideten Demonstrantinnen beziehen sich auf den dystopischen Roman „Der Report der Magd“ der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Frauen als Gebärmütter und dem Mann nach fundamentalistisch biblischer Lesart in einer religiös verbrämten Militärdiktatur untergeordnet – für die Frauen ist ihr stiller Protest kein verspäteter Verkleidungsspaß zum fröhlich-ausgelassenen Purim-Fest, sondern Ausdruck tiefer Sorge um die Zukunft ihres Landes. Es ist die Angst vor einer Zukunft, wie sie nach Ansicht der Protestierenden von der rechtsreligiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit der höchst umstrittenen Justizreform angestrebt wird.
Demonstranten fordern einen endgültigen Stopp der Justizreform
Die Demonstrationen gegen das Gesetzesvorhaben und die Regierung nehmen kein Ende. Obgleich Netanjahu eine vorläufige Aussetzung der angestrebten Justizreform angekündigt hatte, machten viele Menschen in Israel deutlich, dass für sie nur ein endgültiger Stopp der Justizreform die Proteste unterbrechen werde. Den laufenden Vermittlungsbemühungen von Präsident Jitzchak Herzog erkennen nur wenige auf beiden Seiten Aussichten auf einen zufriedenstellenden Kompromiss zu. Kritik zahlreicher namhafter Vertreter aus Israels Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und des Militärs an der Justizreform wurde zuletzt auch verstärkt aus dem Ausland – insbesondere aus den USA – aufgegriffen.
„Demokratie! Demokratie!“, ruft die Menge auf der Kaplanstraße immer wieder. Ihr Zorn richtet sich nicht nur gegen das Gesetzesvorhaben, das lediglich aufgeschoben wurde, sondern auch gegen ein Zugeständnis, das Netanjahu seinem Koalitionspartner Itamar Ben-Gvir machte. Der Polizeiminister, der 2007 wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer Terrorgruppe verurteilt wurde, erhielt die Führungsposition über eine „Nationalgarde“. Nach den Plänen Ben-Gvirs soll die Einheit parallel zu Polizei und Militär arbeiten und sich um "zivile Unruhen" landesweit kümmern. Kritiker warnen davor, dass er die Truppe mit rund 2000 Einsatzkräften gezielt gegen die arabische Bevölkerung oder regierungskritische Demonstranten einsetzen könnte. Das Vorgehen der Polizei gegen regierungskritische Demonstranten kritisierte Ben-Gvir zuletzt mehrfach als "zu schwach". Immer wieder heizte er in der Vergangenheit den Konflikt mit den Palästinensern gezielt an. Rufe wie "Tod den Arabern!" und "Verbrennt ihre Dörfer!" sind auf Veranstaltungen von seinen Anhängern keine Seltenheit.
Wohin steuert Israel?
Auf der Kaplanstraße tragen am Samstagabend etliche Protestschilder mit Fratzen Ben-Gvirs. Eine Gruppe Demonstrierender hat sich schwarze Uniformen gebastelt und marschiert im Gleichschritt mit Sturmhauben und Polizeihauben durch die Menschenmenge. Nicht weit davon singt eine Formation in Rosa gekleideter Trommler: „Wir haben keine Angst!“ Das Stakkato ihrer Trommelschläge gibt seit Wochen den Herzschlag der Demonstranten vor. In den letzten Tagen bestimmten Fernsehbilder von Reiterstaffeln und Wasserwerfern, die Demonstrierende in Tel Aviv auseinandertrieben, erneut die Nachrichtensendungen. Polizeieinheiten gerieten auch mit Gegendemonstranten aneinander. Tausende waren in Jerusalem und Tel Aviv zur Unterstützung der Regierung und ihrer Reformpläne auf die Straße gegangen. Beide Seiten tragen die blau-weißen Fahnen mit dem Davidstern. Beide stimmen immer wieder die Nationalhymne an. „So lange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, ein freies Volk zu sein, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“
Wohin aber driftet Israel? Dass die politische Realität des Landes sich verändert hat, ist unbestritten. Sie hat die Kluft zwischen religiösen und säkularen, konservativen und liberalen Israelis weiter vertieft. Netanjahu und seine Anhänger verteidigen die Reformpläne, um die Handhabe der ihrer Auffassung nach zu einflussreichen Justiz zu zügeln. In der Vergangenheit hat das Oberste Gericht Israels immer wieder zugunsten von Minderheiten und einer liberalen Gesellschaftsordnung geurteilt. Netanjahus Kritiker fürchten, dass das Land mit der Durchsetzung der Justizreform in Richtung Autoritarismus gleitet, indem es ein unabhängiges Gerichtssystem schwächt und dadurch der Regierung kaum begrenzte Machtbefugnisse überlässt. Der israelische Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari, einer der bekanntesten Unterstützer der Proteste, hat immer wieder davor gewarnt, dass Israel in Richtung einer Diktatur steuert: „Wenn diese Art von Macht in die Hände eines autokratischen Regimes fällt, das auch ein fundamentalistisches religiöses Regime mit expansionistischen Zielen ist und an die jüdische Vorherrschaft glaubt, wird es den gesamten Nahen Osten in Brand setzen.“
Zusammenstöße in der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem
Längst brennt es nicht nur auf den Straßen Tel Avivs und Jerusalems. Im Westjordanland spitzten sich die blutigen Zusammenstöße zwischen dem israelischen Militär, Siedlern und Palästinensern seit Jahresbeginn weiter zu. Terroranschläge und darauffolgende Razzien israelischer Soldaten schüren schon seit Wochen die Angst vor einer neuen Intifada. Allein seit Jahresbeginn wurden 14 Israelis und eine Ukrainerin bei Anschlägen getötet. Im gleichen Zeitraum kamen 91 Palästinenser ums Leben – die meisten davon bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee. 2023 droht eines der tödlichsten Jahre auf beiden Seiten zu werden. Bei Auseinandersetzungen in der Al-Aksa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg wurden in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mehrere Menschen verletzt. Womöglich als Antwort auf die Ereignisse wurde der Süden Israels daraufhin mit Raketen aus Gaza beschossen.
Nichts deutet darauf hin, dass sich die innen- und außenpolitische Lage in absehbarer Zeit entschärfen könnte. In der Vergangenheit hatte die Angst durch eine Bedrohung des jüdischen Staats die tief gespaltene israelische Gesellschaft immer wieder zusammenrücken lassen. Derzeit scheint jedoch selbst sie die Gräben nicht mehr zu überbrücken. Wenige Israelis hegen die Hoffnung, dass sich die Situation über das am Abend begonnene Pessach-Fest, das in diesem Jahr mit Ostern und dem Ramadan zusammenfällt, beruhigen wird. Der darauffolgende Unabhängigkeitstag und die Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Staates Israel könnten nach Meinung vieler als Tage des Zwiespalts und des Zorns in die Geschichte des Landes eingehen.
Wie angeschlagen Israel auch auf der internationalen Bühne ist, zeigte sich vergangene Woche. Der "besorgte" US-Präsident Joe Biden weigerte sich öffentlich, Netanjahu ins Weiße Haus einzuladen. "Nicht in nächster Zeit", sagte er vor laufender Kamera. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron machten deutlich: So kann es nicht weitergehen. "Eine Blamage für Netanjahu", werteten Beobachter. Dabei ist er im Kampf gegen den Iran auf seine Verbündeten angewiesen. Aber auch, um die Beziehungen zu weiteren arabischen Staaten zu normalisieren – sein großes Wahlkampfversprechen. Zuletzt verkündeten der Iran und Saudi-Arabien eine Wiederannäherung. Ein schwerer Schlag für den Regierungschef.