Die Grünen haben ein Jahr vor der Bundestagswahl die Reißleine gezogen. Als Konsequenz aus den jüngsten Misserfolgen der Partei bei Wahlen und schlechten Umfragewerten kündigten die Co-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour den Rücktritt des gesamten Parteivorstandes im November an. «Es braucht einen Neustart», sagte Nouripour in Berlin.
Auf dem Bundesparteitag Mitte November solle ein neuer Vorstand gewählt werden. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nannte den angekündigten Rücktritt einen «großen Dienst an der Partei».
Die Grünen hatten bei den vier zurückliegenden Wahlen – der Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – drastische Verluste erlitten. Aus zwei Landtagen flogen sie hinaus. Allein in Sachsen gelang ihnen knapp der Wiedereinzug ins Landesparlament. «Das Wahlergebnis am Sonntag in Brandenburg ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade», sagte Nouripour.
«Es braucht neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen», sagte Lang. «Jetzt ist nicht die Zeit, am eigenen Stuhl zu kleben. Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen, und wir übernehmen diese Verantwortung, indem wir einen Neustart ermöglichen», fügte sie hinzu.
Vorstandswahl eigentlich erst nach Bundestagswahl
Lang und Nouripour waren Anfang 2022 zu Vorsitzenden gewählt worden - als Nachfolger von Habeck sowie Außenministerin Annalena Baerbock. In der Partei sind sie relativ beliebt. Dass zwischen ihnen - anders als bei manchen Vorgängern - keine Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten zu spüren waren, rechnen ihnen viele Grünen hoch an. Der aktuelle Bundesvorstand war im November 2023 eigentlich für zwei Jahre gewählt worden.
In bundesweiten Umfragen erreichten die Grünen zuletzt Werte, die deutlich unter ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl von 2021 liegen. Damals hatten die Grünen mit ihrer Kanzlerkandidatin Baerbock 14,8 Prozent geholt. Die Partei hatte sich damals noch mehr erhofft. Wenn schon am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, könnten die Grünen nun laut jüngsten Umfragen nur noch mit zehn bis elf Prozent der Stimmen rechnen.
Habeck: Gegenwind für Grüne
Habeck dankte dem scheidenden Führungsduo. «Dieser Schritt zeugt von großer Stärke und Weitsicht», sagte er. Lang und Nouripour machten den Weg frei für einen «kraftvollen Neuanfang». Habeck sagte weiter: «Hinter uns liegen harte Monate, die Grünen standen voll im Gegenwind.» Die Niederlagen bei den letzten Wahlen seien unstrittig vom Bundestrend beeinflusst.
Wie stellen die Grünen sich zur Bundestagswahl auf?
Die Grünen wollen im Herbst entscheiden, ob sie bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken oder nur mit einem Spitzenkandidaten antreten. Voraussichtlich fällt die Entscheidung vor dem Bundesparteitag, der Mitte November in Wiesbaden ansteht. Nachdem Außenministerin Baerbock gesagt hatte, dass sie diesmal nicht an der Spitze stehen will, läuft alles auf Habeck hinaus.
«Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch ich will mich ihr stellen», sagte Habeck nun. «Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl.» Der Parteitag werde jetzt der Ort werden, «wo sich die Grünen neu sortieren und neu aufstellen werden, um dann mit neuer Kraft die Aufholjagd zur Bundestagswahl zu beginnen».
Baerbock: Müssen auch in Regierung besser werden
Baerbock sieht Verbesserungsbedarf in ihrer Partei - und in der Ampel-Regierung. «Wir alle, die wir für die Grünen und dieses Land Verantwortung tragen, müssen uns fragen, was wir anders machen können und müssen», erklärte die Ex-Grünen-Chefin am Rande der UN-Generalversammlung in New York. Es gehe darum, das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückzugewinnen. «Auch wir in der Regierung müssen uns fragen, wie wir besser werden können.»
Baerbock sagte weiter, sie werde Habeck auf seinem Weg und dem Parteitag im November mit aller Kraft und ganzem Einsatz unterstützen.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte: «Es ist das klare Signal: Die Grünen haben verstanden. Es hat sich etwas geändert in unserem Land und darauf reagieren wir.»
Mögliche Kandidaten für Parteivorsitz
Wer für den Parteivorsitz kandidieren wird, ist noch offen, auch wenn hinter den Kulissen schon die Namen genannt werden. Einer davon ist Franziska Brantner. Sie ist parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, eine enge Vertraute Habecks, die dem Realo-Flügel angehört. Für die 45-Jährige spricht nach Ansicht von Parteimitgliedern, dass sie klar kommunizieren kann und aktiv verschiedene Social-Media-Plattformen bespielt. Schon vor ein paar Wochen wurde bekannt, dass Brantner Habecks Wahlkampfmanagerin werden soll.
Auch der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak (34) gilt als aussichtsreicher Bewerber. In seiner damaligen Rolle als Landesvorsitzender hat er die nordrhein-westfälischen Grünen 2022 zu ihrem bislang besten Ergebnis (18,2 Prozent) in NRW und in die Landesregierung geführt.
Nach «Spiegel»-Informationen ist auch der Berliner Grünen-Abgeordnete und Vize-Fraktionschef Andreas Audretsch im Gespräch. Eine Sprecherin der hessischen Grünen-Landtagsfraktion sagte, der frühere hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir wolle nicht - wie es der «Tagesspiegel» geschrieben hatte -Vorsitzender der Grünen werden.
Ampel im «Herbst der Entscheidungen»
Schon am Montag hatte Nouripour relativ resigniert geklungen. Er sprach von einer bitteren Niederlage in Brandenburg und zeigte sich zugleich konsterniert über den Zustand der Ampel-Koalition. In der Ampel aus SPD, FDP und Grünen gibt es wiederholt öffentlich ausgetragene Streitigkeiten über verschiedene Themen. Nouripour hatte die Ampel bereits als «Übergangslösung» bezeichnet.
Nach Ansicht von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der angekündigte Rücktritt der Grünen-Spitze keine Auswirkungen auf die Ampel-Koalition. Scholz habe mit Lang und Nouripour «eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet» und bedauere ihren Rückzug, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die SPD-Spitze dankte den Grünen-Vorsitzenden für die enge Zusammenarbeit.
FDP-Chef Christian Lindner zollte Lang und Nouripour für deren Rücktrittsankündigung Respekt. «Die Zusammenarbeit war menschlich immer fair», schrieb der Bundesfinanzminister auf X. Zugleich betonte er: «Wir sind gespannt, ob unter neuer Führung ein neuer Kurs entsteht und welche Auswirkungen er auf die Regierung hat.» Lindner hatte mit der Forderung nach einem «Herbst der Entscheidungen» den Druck auf die Koalitionspartner SPD und Grüne erhöht. Unter anderem soll ein Wachstumspaket umgesetzt werden, um die Konjunktur anzukurbeln.
Söder fordert Rücktritt Habecks
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte Habeck auf, sein Amt niederzulegen. Die Rücktrittsankündigung von Lang und Nouripour sei «nichts anderes als ein Bauernopfer», sagte er in Berlin. Dass der Grünen-Bundesvorstand im November komplett zurücktreten wolle, zeige, «dass die Ampel in sich zerfällt». Habeck persönlich sei verantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands.
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