Herr Brysch, die Krankenhausreform wurde vom Bundeskabinett verabschiedet, doch die Sorge vieler Menschen im ländlichen Raum bleibt, dass die Wege ins nächste Krankenhaus nun weiter werden. Wie berechtigt ist diese Angst aus Ihrer Sicht als Patientenschützer?
EUGEN BRYSCH: Die Bedenken sind berechtigt. Eine zentrale Herausforderung ist, dass etwa 60 Prozent der Menschen auf dem Land wohnen. Daher muss auch alles dafür getan werden, dass die ländliche Region gestärkt wird. Gleichzeitig gilt es, das stationäre Angebot in meistens überversorgten Ballungszentren anzupassen. Doch eine politische Strategie fehlt hier leider.
Sie fordern also eine klare Verlagerung von der Stadt aufs Land?
BRYSCH: Wir fordern eine Anpassung an die Lebenssituation der Menschen. Und dafür ist ein politisches Konzept nötig. Man muss die Menschen mitnehmen und ihnen vor allem das Grundproblem deutlich machen: Wir haben heute bundesweit deutlich weniger Patientinnen und Patienten. Ihre Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen. Daher ist auch die Auslastung in den Krankenhäusern stark gesunken. Das ist der Grund, warum auch die Einnahmen weggebrochen sind. Im Gegensatz dazu stieg jedoch die Personalzahl im medizinisch-pflegerischen Bereich. Diese Fakten werden im öffentlichen Diskurs in der Regel ausgeblendet.
Aber es heißt doch stets, dass Ärzte und Pflegekräfte fehlen ...
BRYSCH: Unser Problem ist eine ineffiziente Verteilung des Personals. Es gibt nicht zu wenig Ärzte und zu wenig Pflegepersonal, sie sind aber an den falschen Stellen.
Und wie könnte diese Verlagerung gelingen?
BRYSCH: Indem Kliniken im absoluten Extremfall auch komplett schließen. Allerdings ist extrem wichtig, vor diesem Schritt zu klären und zu kommunizieren, welche Krankenhäuser in strukturarmen Regionen zu erhalten sind. Und in diese Krankenhäuser muss dann auch kräftig investiert werden. Allerdings würde dies bedeuten, dass wesentlich mehr Ärzte und Pflegekräfte in den ländlichen Raum gehen müssten, der für viele nicht so attraktiv ist. Doch vergessen wir nicht: Das haben wir bereits anderen Berufsgruppen zugemutet. Genau das ist die große Schwierigkeit. Dann darf sich jedoch niemand wundern, wenn Ärzte und Pflegekräfte auf die Straßen gehen und für den Erhalt ihres Standorts demonstrieren.
Das wäre aber auch eine staatlich verordnete Jobverteilung ...
BRYSCH: Aber ist ein Angebot am Bedarf vorbei wirklich organisierbar und finanzierbar? Genau das geschieht gerade in unserem Gesundheitssystem. Dies bedeutet doch noch viel mehr staatliche Lenkung. Zumal sich Deutschland die jetzige Versorgung gar nicht mehr leisten kann: Auf über 100 Milliarden Euro werden die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für die Krankenhäuser wohl in diesem Jahr steigen.
Dabei sind viele Kliniken – auch Maximalversorger – in den roten Zahlen. Auch aus diesem Grund eilt es doch mit der Reform, oder?
BRYSCH: Es ist doch kein Wunder, dass so vielen Krankenhäusern die Insolvenz droht: Wie gesagt, wir haben in den letzten fünf Jahren zwei Millionen weniger Patientinnen und Patienten, dafür aber neun Prozent mehr Ärzte und 16 Prozent mehr Pflegekräfte. Bei weniger Patienten und höheren Personalkosten sinken die Umsatzerlöse automatisch. Wenn sie aber diese Fakten auf den Tisch legen, weht ihnen gerade als Patientenschützer ein eisiger Wind entgegen. Das sind extrem unbequeme Wahrheiten. Aber sie sind der Grund, warum die Lage so desaströs ist. Daher ist es so wichtig, dass jetzt eine politische Entscheidung in den Bundesländern fällt, welche Kliniken im ländlichen Raum erhalten werden müssen. Doch eine solche Priorisierung gibt es nicht.
Dabei könnte die Politik damit doch zeigen, dass ihr die Menschen auf dem Land wichtig sind.
BRYSCH: So einfach ist es nicht. Politikerinnen und Politiker sind bei der Krankenhausreform in einer schwierigen Lage. Vor allem wollen sie wiedergewählt werden. Und sie stecken in einer Schlangengrube. Es gibt viele Interessengruppen, die medienwirksam ihre Forderungen formulieren. Gerade auch die Ärzteschaft ist sehr gut organisiert und hat kein Interesse daran, dass publik wird, dass ihre Arbeitsplätze aus sozioökonomischer Sicht falsch verteilt sind. Die Gruppe der Patientinnen und Patienten hingegen ist am schlechtesten organisiert. Die Krankenhausreform gleicht einem Verteilungskampf. Und jeder Akteur behauptet, er tue es für den Patienten. Doch zunächst steht doch das Eigeninteresse im Mittelpunkt. Vor allem soll das System, so ineffizient es auch ist, erhalten bleiben. Dieser Verteilungskampf geht zu Lasten der Patienten.
Aber mit Blick auf die Demografie, steigt doch die Zahl der Älteren und damit die der Patienten?
BRYSCH: Wenn dem so wäre, hätten wir doch schon in den vergangenen Jahren steigende Patientenzahlen. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Die gestiegene Zahl an Ärzten und Pflegekräften ist aber ja eine Folge veränderter Vorgaben.
BRYSCH: Ja, die Vorgaben änderten sich, weil Qualität ausschließlich am Personalschlüssel festgemacht wird. Dabei müsste die Qualität am Patienten gemessen werden.
Wie sähe das konkret aus?
BRYSCH: Wir müssten beispielsweise schauen, ob es in den Kliniken ein funktionierendes Fallmanagement gibt. Wie wird der Patient aufgenommen und begleitet, welche Ansprechpartner gibt es für Angehörige. Heute werden viele Patientinnen und Patienten am Morgen stationär aufgenommen und erfahren am Mittag, dass ihre OP verschoben wird. In vielen Kliniken weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut. Qualität heißt auch, den Blick auf den Patienten nach einer Woche, einem Monat und einem Jahr zu werfen. Hinzu kommt der exorbitant hohe Krankenstand beim Pflegepersonal. Schon dies ist ein Indiz dafür, dass es nicht gut läuft.
Wenn so viele aufs Land wechseln sollen, droht der Frust doch am Ende noch weiter zu wachsen.
BRYSCH: So eine Transformation gilt es, zu finanzieren. Das wissen wir aus anderen Bereichen. Und es müssen auf Bundes- und Landesebene parteiübergreifend alle an einem Strang ziehen. Dabei muss allen klar werden: Die Reform wird nicht benötigt, um die Jobs der Ärzte und Pflegekräfte an einem bestimmten Standort zu sichern. Vielmehr ist sie notwendig, um eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Das Wohl der Patientinnen und Patienten muss hier die Richtschnur sein. Das Hauptproblem ist aber: Ich sehe die zusätzlichen 100 Milliarden Euro nicht, die dafür nötig wären. Jetzt ist die Zeit, dafür ein Sondervermögen einzurichten.
Dabei hat Minister Lauterbach schon die nächste Reform angekündigt, diesmal in der Pflege.
BRYSCH: Ich bin jetzt seit fast 30 Jahren für den Patientenschutz aktiv, aber Karl Lauterbach ist der inflationärste Ideengeber, den ich in dieser Zeit erlebt habe. Dabei steckt er meines Erachtens leider alle Energie in die Sahne und kümmert sich erst gar nicht um den Kaffee. Das heißt: Er vernachlässigt die Kernarbeit.
Lauterbach verspricht nun eine „stambulante“ Pflege, eine Mischung aus stationär und ambulant. Was fordern Sie bei einer Pflegereform vor allem?
BRYSCH: Vor allem können wir die Pflege nicht mehr so finanzieren, wie es derzeit geregelt ist. Wir brauchen eine Bürgerversicherung, in die auch alle ausnahmslos einzahlen. Und: Wir brauchen eine Obergrenze für den Eigenanteil der Pflegebedürftigen, die sich an der Inflationsrate orientiert. Denn nur dann können Menschen Vorsorge treffen, weil sie wissen, was finanziell auf sie zukommt. Es muss gesetzlich klar geregelt sein, was man selbst zu leisten habe und was die Versicherung übernimmt. Allerdings sehe ich dafür auch keinen Euro mehr im Bundeshaushalt. Und lassen Sie mich noch etwas zu dem Wort „stambulant“ sagen. Das ist wieder so ein Lauterbachsches Sahnehäubchen. „Stambulant“ ist eine Traumvorstellung und teurer als jedes Pflegeheim. Wie soll denn an sieben Tagen der Woche rund um die Uhr eine Versorgung in den eigenen vier Wänden sichergestellt werden. Das wären doch exorbitante Kosten.
Zumal die Belastung pflegender Angehöriger schon zu hoch ist.
BRYSCH: Und hinzukommt noch: Auch die Kosten für die ambulanten Pflegedienste explodieren. Wir kommen auch hier allein mit Zuschüssen nicht weiter. Zuschüsse bedeuten: Vogel friss oder stirb und das kann nicht die Lösung sein.
Zur Person Eugen Brysch, 62, war 1995 Gründungsgeschäftsführer der Deutschen Hospiz Stiftung, die sich seit 2012 Deutsche Stiftung Patientenschutz nennt. Er ist der Vorstand dieser Organisation, die sich nach eigenen Angaben unabhängig von staatlicher Förderung oder finanzieller Unterstützung vor allem für Schwerstkranke, Pflegebedürftige und Sterbende einsetzt.
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