Der Kanzler lässt sich Zeit. Eine knappe halbe Stunde steht Olaf Scholz schon am Pult, als er zum ersten Mal auf das Thema zu sprechen kommt, das seine Regierung schier zu zerreißen droht. Ja, das Verfassungsgericht habe der Ampelkoalition mit seinem Haushaltsurteil eine sehr schwere Aufgabe gestellt, räumt er ein. „Aber wir stehen nicht vor einer unlösbaren Aufgabe.“
Fünf Minuten später hat Scholz dann auch schon gesagt, was aus seiner Sicht dazu zu sagen ist. „Es wird keinen Abbau des Sozialstaats geben“, beteuert er unter dem Jubel der Delegierten beim SPD-Parteitag in Berlin. Der Sozialstaat sei eine der größten Errungenschaften Deutschlands, eine Grundlage seines Wohlstands. „Er gehört zur DNA und zum Selbstverständnis des Landes.“
Kanzer Olaf Scholz will nicht am Bürgergeld sparen
Einschnitte beim Bürgergeld, das um zwölf Prozent steigen soll und das die FDP in den Verhandlungen über den neuen Haushalt gerne etwas abspecken würde, sind nach diesem Auftritt vermutlich vom Tisch. „Dem muss man widerstehen“, hat Scholz gerade versprochen. Dahinter kann er in den Verhandlungen mit Finanzminister Christan Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht zurück, wenn er von seiner Partei nicht des Wortbruches bezichtigt werden will.
Der Rest bleibt Spekulation. Wie ihr Kanzler die noch fehlenden 17 Milliarden für das kommende Jahr zusammenkratzen will, wie es um das Binnenklima seiner Koalition steht und wie sie wieder in ruhigeres Fahrwasser zurückkehren will, erfährt die SPD an diesem Vormittag nicht. Scholz bleibt, wie so oft, im Diffusen. „Unser Gegenmittel“, sagt er einmal, „ist Zuversicht.“
Die große Rede zur Lage des Landes ist es nicht, die er da hält. Eher eine zur Beruhigung seiner Partei, die in den Umfragen auf Werte gefallen ist, mit denen sie nach der nächsten Wahl keine Regierung mehr anführen könnte. Scholz dankt für die gute Zusammenarbeit und die Geschlossenheit. Er listet auf, was die Ampelkoalition von der höheren Erwerbsminderungsrente bis zum gestiegenen Kindergeld schon alles für den sozialen Ausgleich getan hat. Er erinnert an die großen Krisen, von der Pandemie bis zum Krieg in der Ukraine, denen seine Regierung sich habe stellen müssen und die man sich nicht einfach wegdenken oder wegwünschen könne. Und er nimmt für sich in Anspruch, diese Krisen gut gemeistert zu haben: „Wir haben“, sagt Scholz, als er auf die knappe und teure Energie nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine zu sprechen kommt, „Deutschland durch diesen Winter gebracht.“
Am Ende feiert die SPD ihren Kanzler für eine sehr sozialdemokratische, die Seele der Partei streichelnde Rede – längst nicht alle im Saal jedoch sind mit ihm und seinem zurückhaltenden Kurs als Kanzler auch einverstanden. Scholz sei der Chef der Regierung und nicht der Paartherapeut von Lindner und Habeck, wettert Juso-Chef Philipp Türmer. Die Menschen wollten einen Kanzler, der Empathie zeige, erkläre und vor allem entscheide. Dass die Bedürftigen vor den Tafeln Schlange stünden, sei ein Armutszeugnis für eine sozialdemokratische Regierung. „Es muss besser werden, als es gerade ist“, verlangt der 27-jährige Kanzler-Schreck unter großem Beifall und wendet sich direkt an Scholz: Vier Bundeskanzler habe die SPD bisher gestellt. „Sorg dafür, dass Du nicht der letzte gewesen bist.“
Die Partei erwartet mehr Führung von Scholz
Nur noch jeder fünfte Deutsche ist mit der Arbeit von Scholz zufrieden, der schlechteste Wert seit 1997, als die ARD mit ihrem Deutschlandtrend begonnen hat, diese Frage zu stellen. Für den Juso-Mann Türmer hat das auch mit der Rolle von Scholz zu tun, der sich als Moderator der Macht sehe und nicht als erster Mann dieser Koalition. Hat er nicht immer wieder gesagt, wer bei ihm Führung bestelle, der müsse damit rechnen, dass er sie auch bekomme? „Hiermit bestelle ich sie“, sagt Türmer zu Scholz. „Und wir warten dringend auf Lieferung.“
„Andere Delegierte stoßen sich vor allem an der neuen Linie des Kanzlers in der Migrationspolitik. „Wir mobilisieren nicht gegen Flüchtlinge und fantasieren nicht über Abschiebeoffensiven“, wirft eine von ihnen Scholz vor, der das heikle Thema außen vor gelassen hat. Wohl wissend, dass weite Teile des Saales das anders sehen, wiederholt er seine Forderung nach Abschiebungen im großen Stil nicht. Am Abend beschließt der Parteitag dann Erleichterungen beim Familiennachzug und eine entschärfte Version der Scholz-Position: Zur zwangsweisen Abschiebung heißt es nur lapidar: „Wird die freiwillige Ausreise allerdings abgelehnt, so ist eine Abschiebung erforderlich.“