Das Datum ist symbolisch, doch zu feiern gibt es bei der SPD gerade wenig: Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Olaf Scholz als Bundeskanzler treffen sich die Sozialdemokraten in Berlin zum Bundesparteitag. Für den krisengeschüttelten Regierungschef alles andere als ein einfacher Termin: Von den 25,7 Prozent, die 2021 noch zum Wahlsieg reichten, ist die Kanzlerpartei in Umfragen auf Werte um die 15 Prozent gefallen. Nicht nur die Union liegt vor ihr, sondern auch die rechtspopulistische AfD, was die Genossinnen und Genossen besonders schmerzt.
Sozialdemokratisches Jahrzehnt? Fehlanzeige
Vom "sozialdemokratischen Jahrzehnt", das Parteichef Lars Klingbeil nach der geglückten Eroberung des Kanzleramts ausgerufen hatte, ist weit und breit keine Spur. Für die SPD-geführte Koalition mit Grünen und FDP gäbe es aktuell keine Mehrheit mehr. Krisen, von Corona über den Ukraine-Krieg bis zum Terror gegen Israel, zwingen beim Regieren zum Fahren auf Sicht. Obendrauf kam zuletzt noch die Frage, wo nach dem Karlsruher Haushaltsurteil denn nun die fehlenden Milliarden herkommen sollen. Die Basis murrt, denn nach ihrem Geschmack bleiben zu viele ihrer sozialpolitischen Herzensanliegen auf der Strecke.
Generalsekretär Kevin Kühnert räumte ein: "Zuletzt musste zweifelsohne viel politisch reagiert werden." Im Willy-Brandt-Haus, der Berliner Bundesparteizentrale, sagte er: "Auf dem Parteitag wollen wir den Anstoß geben, vom Reagieren ins Agieren zu kommen und proaktiv Themen zu setzen." Kurz vor dem Treffen im futuristischen "City Cube" in der Berliner Messe war klar geworden, dass der aktuelle Etat-Streit wohl nicht mehr in diesem Jahr gelöst werden kann. Kühnert machte aber deutlich, dass Einschränkungen im Sozialbereich, etwa beim Bürgergeld, wie es die FDP fordert, mit seiner Partei nicht zu machen seien - das werde "den Sound vieler Reden prägen". Klar sei: "Wir werden nicht den Sozialstaat preisgeben – weder im Ganzen noch in Teilen.“
Scholz muss den richtigen Ton treffen
Den richtigen Ton treffen muss vor allem Olaf Scholz. Von seiner Rede, die am Samstagvormittag ansteht, erwarten die von 600 Delegierten vertretenen rund 380.000 Parteimitglieder Orientierung, Führung und Zuversicht. Weil der Kanzler angesichts der Zwänge in der Ampel-Koalition und der unklaren Finanzlage wenig Konkretes für die kommenden Monate versprechen kann, dürfte er sich eher auf die ganz großen sozialdemokratischen Visionen für die Zukunft konzentrieren. So muss er sich nicht erst mit der Frage aufhalten, ob ein Vorhaben mit den Koalitionspartnern Grüne und FDP irgendeine Chance auf Umsetzung hat.
Was im Leitantrag der Parteispitze vorgesehen ist, widerspricht nämlich in weiten Teilen exakt den Prinzipien der Liberalen, die unmissverständlich klargestellt haben, dass Steuererhöhungen mit ihnen nicht zu machen sind. Die SPD aber will die Schuldenbremse lockern und Menschen mit hohen Einkommen stärker belasten, auch eine Erhöhung der Erbschafts- und Schenkungssteuer für höhere Beträge ist geplant. Mehrerlöse sollen dann den maroden Bildungssektor wieder auf Vordermann bringen. Auf dem Parteitag geht es also nicht um konkrete Vorhaben für die kommenden beiden Jahre, sondern letztlich um das Programm, mit dem die SPD 2025 in den Bundestagswahlkampf ziehen will. Dabei bekennt sich die SPD zu einem starken Industriestandort Deutschland, aber unter klimaneutralen Vorzeichen. Der Staat dürfe kein bloßer "Nachtwächterstaat" sein, sondern müsse gestaltend eingreifen, um dafür die Voraussetzungen zu schaffen.
Werden Lars Klingbeil und Saskia Esken abgestraft?
Mit Spannung erwartet wird die anstehende Wiederwahl der SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken. Dass die amtierende Doppelspitze bestätigt wird, gilt als wahrscheinlich, doch manche Delegierte könnten mit einer Nein-Stimme ihre generelle Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Auf Sturm stehen die Zeichen beim Thema Migration. Olaf Scholz hatte zuletzt gefordert, Deutschland müsse "im großen Stil" abschieben. Doch dafür bläst ihm heftiger Gegenwind aus den eigenen Reihen ins Gesicht.
Die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt sowie die Jusos lehnen eine Verschärfung von Abschiebungen, wie etwa die Verlängerung der Abschiebehaft von 10 auf 28 Tage ab. Die Jusos wollen zudem die Seenotrettung entkriminalisieren, Ankerzentren schließen, Arbeitsverbote abschaffen und das Asylbewerberleistungsgesetz überarbeiten. Bis zuletzt arbeitete der Parteivorstand am Donnerstag daran, die unterschiedlichen Positionen in einem gemeinsamen Antrag zusammenzufassen. Doch eine aufgeheizte Asyldebatte dürfte dem Kanzler nicht erspart bleiben.