Es ist Samstagnacht und unter der futuristischen hölzernen Kuppel der Karlsruher Messe brodeln die Emotionen. Der Grünen-Nachwuchs und die linken Fundis heizen dem Establishment mächtig ein, es geht um die brisante Frage, wie es die Partei künftig halten will mit der Migration. Dürfen Grünen-Politiker in der Ampel-Bundesregierung und auf Europa-Ebene Abschiebungen zustimmen, Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen, in denen Anträge bearbeitet werden, eingeschränkte Leistungen für Asylbewerber mittragen? Niemals, so finden viele aus tiefster Überzeugung. Um offene Herzen, Arme und Grenzen für Geflüchtete zu zeigen, sind nicht wenige von ihnen ja genau in diese Partei eingetreten. Seit der großen Flüchtlingswelle 2015 hat sich die Mitgliederzahl auf heute 126.000 fast verdoppelt.
Verzweifelte Appelle junger Grüner
Der junge Kölner Delegierte Leon Schlömer appelliert fast verzweifelt: "Bitte lasst uns die Partei bleiben, die eben nicht sagt, 'wir müssen im großen Stil abschieben', sondern die Partei, die sagt 'kein Mensch ist illegal'". So denken viele im Saal, das zeigt der tosende Applaus. In der die politische Tagesordnung gerade bestimmenden Migrationsdebatte keine weiteren Kompromisse eingeht – dazu will die Grüne Jugend die Parteispitze mit Ricarda Lang und Omid Nouripour, ihre fünf Regierungsmitglieder um Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck per Antrag verpflichten. Gäbe es dazu unter den 825 Delegierten eine Mehrheit, hätte das ernste Folgen für die Handlungsfähigkeit der Ampel. Denn die Koalitionspartner SPD und FDP wollen die anhaltend hohe Zuwanderung über das Asylsystem angesichts mit der Aufnahme zunehmend überlasteter Kommunen deutlich einschränken. Erste Maßnahmen haben die mitverantwortlichen Grünen bereits gebilligt, beim Asylgipfel von Bund und Ländern ebenso wie bei der geplanten EU-Asylreform. Auch Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält mehr Steuerung und Kontrolle der Migration für dringend nötig. Doch auch er wird dafür massiv angefeindet von den Teilen der Basis, die in derlei Reformen einen "Rechtsruck" sieht.
Attacke auf Habeck, der holt zum Gegenschlag aus
Katharina Stolla, eben erst zur Vorsitzenden der Grünen Jugend gewählt, greift Robert Habeck frontal an: "Eine unmenschliche Asylpolitik ist keine Realität, sondern eine politische Entscheidung." Für den Wirtschaftsminister, der sich für mehr Steuerung der Migration in der Vergangenheit offen gezeigt hatte, muss es in diesem Moment aussehen, als bahne sich eine Palastrevolution an. Die Stimmung ist hochemotional, es geht in vielen Redebeiträgen um das Sterben im Mittelmeer und das Schicksal verfolgter Frauen und Kinder. Die Spitzengrünen werfen sich nervöse Blicke zu, es wird beraten und telefoniert. Droht ihr eigener Dringlichkeitsantrag zu scheitern, mit dem sie sich die Beinfreiheit für Kompromisse verschaffen wollen? "Steuerung, Ordnung und Rückführung gehören zur Realität eines Einwanderungslandes dazu", heißt es darin. Ausdrücklich wird auch davor gewarnt, dass die Politik die Akzeptanz der Menschen verliere, wenn sie ihrer Verantwortung in dieser Hinsicht nicht nachkomme. Gleichzeitig soll der Antrag verdeutlichen, dass die Grünen weiter auf Humanität setzen. Es bleibt etwa bei der entschiedenen Ablehnung jeglicher Art von Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Eine solche sei "weder machbar noch rechtens, noch human". Seenotrettung wird ausdrücklich befürwortet, mehr Unterstützung für die Kommunen bei der Versorgung von Geflüchteten gefordert. Angehörigen der durch Islamisten mit Völkermord bedrohten religiösen Minderheit der Jesiden solle besonderer Schutz gewährt werden.
Annalena Baerbock verteidigt Asylreform
Annalena Baerbock verteidigt die geplanten Reformen des europäischen Asylsystems. "Ohne Ordnung ist keine Humanität möglich", sagte sie. Wenn die Grünen über Änderungen nicht mehr verhandeln dürften, drohten am Ende schlechtere Ergebnisse für Geflüchtete. Robert Habeck ist es dann, der mit einer kämpferischen Rede die Stimmung dreht. Er bezeichnet den Vorstoß der Jugend als eine Art verkapptes "Misstrauensvotum" gegen die Arbeit der Grünen in der Ampel. "Die Wahrheit ist, dass dieser Antrag dazu auffordert, die Regierung zu verlassen", sagte er. Für den Antrag der Parteispitze entscheiden sich nach zweieinhalbstündiger, heftiger Debatte, rund zwei Drittel der Delegierten. Damit ist der Ampel für die anstehenden Änderungen der Migrationsregeln eine große Belastung erspart geblieben, einerseits. Andererseits, das hat die grüne Basis mehr als deutlich gemacht, wird sie ihrer Spitze dabei sehr genau auf die Finger sehen.