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Parteien: Sind die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?

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Sind die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?

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    Waffenlieferungen an die Ukraine, mehr Rüstungsausgaben, mehr Strom aus Kohlekraftwerken. Die Grünen treffen harte Entscheidung – und sahnen dennoch ab in den Umfragen.
    Waffenlieferungen an die Ukraine, mehr Rüstungsausgaben, mehr Strom aus Kohlekraftwerken. Die Grünen treffen harte Entscheidung – und sahnen dennoch ab in den Umfragen. Foto: Fabian Strauch, dpa

    Wenn die Grünen eines Tages auf das Jahr 2022 zurückblicken, wäre es gut möglich, dass das Wort „Zeitenwende“ fällt. Nicht, weil es Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner bislang wohl wichtigsten Rede genutzt hat. Sondern weil es das auf den Punkt bringt, was innerhalb kurzer Zeit mit der Öko-Partei geschehen ist.

    Kaum eine andere politische Gruppierung hat in solch rasendem Tempo ihre für unverrückbar gehaltenen Positionen über Bord geworfen wie die Grünen: steigende Rüstungsausgaben, schwere Waffen für die Ukraine, Strom aus Kohle, Energie-Gespräche mit Katar – womöglich sogar bald der (vorübergehende) Ausstieg aus dem Atomausstieg.

    Zwar hat auch die Union in ihrer Regierungszeit immer wieder Pragmatismus walten lassen und sich von Grundsätzen wie etwa der Wehrpflicht verabschiedet. Doch anders als die Grünen fühlen sich CDU und CSU seit jeher eher der Macht verpflichtet als starren Prinzipien.

    Hinzu kommt, dass die Union zwar im Kern konservativ, in ihren Verästelungen aber vielfältig ist: das Christsoziale findet dort genauso eine Heimat wie das Rechtskonservative. Die Grünen waren lange weit weniger beweglich – ideologisch nannten das die einen, prinzipientreu die anderen. Selbst der Kampf zwischen Realos und Fundis schien beigelegt.

    Grüne liegen in Umfragen die fünfte Woche in Folge vor der SPD

    Umso überraschender ist, dass die Geschmeidigkeit, mit der die grüne Parteispitze neue Wege geht, nicht in einer massiven Wählervergrämung endet. Im Gegenteil: In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa landet die Partei in der fünften Woche in Folge bei 24 Prozent – und liegt damit sechs Prozentpunkte vor der Kanzlerpartei SPD und nur noch zwei Prozentpunkte hinter der Union. Die FDP kommt bei Forsa auf sieben, die Linke auf fünf und die AfD auf zehn Prozent. Ebenfalls zehn Prozent würden sich für eine der sonstigen kleinen Parteien entscheiden. Sind die Grünen also die neue deutsche Volkspartei?

    Nein, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner und nennt einen entscheidenden Grund: Volksparteien gelingt es, heterogene Wählergruppen mit unterschiedlichen Interessen zu bündeln und zusammenzuführen. „Die Grünen sind Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre im Milieu der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft entstanden – einem Milieu, das es im Osten des Landes weder gab noch gibt“, analysiert Güllner. „Deshalb würden die Grünen derzeit in Westdeutschland von 26, in Ostdeutschland jedoch nur von zwölf Prozent der Wahlwilligen gewählt.“

    Forsa-Chef Manfred Güllner.
    Forsa-Chef Manfred Güllner. Foto: Britta Pedersen, dpa

    Die Grünen würden, so der Meinungsforscher, auch nicht – wie in der SPD häufig gemutmaßt – einem den Sozialdemokraten zugeneigten proletarischen Milieu entstammen, „sondern die ersten Anhänger der Grünen waren Söhne der konservativen Bürgerschicht, denen sich später auch viele Bürgertöchter anschlossen“.

    Das spiegelt sich in der Wählerschaft wider: Aktuell würden die Grünen von 35 Prozent der von Forsa Befragten mit Abitur oder Hochschulabschluss, aber nur von elf Prozent der Hauptschüler gewählt. Zudem würde die Partei häufiger von Frauen als von Männern gewählt. Außerdem seien die Grünen im eher linken Spektrum verortet: „Von den Wahlberechtigten, die sich selbst dem linken Spektrum zuordnen, würden 40 Prozent die Grünen wählen“, so die Forsa-Umfrage. „Von denen, die sich selbst in der politischen Mitte verorten, würden nur 15 Prozent grün wählen.“ Die Grünen seien zudem eine Partei der „Besserverdienenden“ und konkurrierten mit der FDP darum, welche Wähler im Durchschnitt über das höhere Haushaltseinkommen verfügen.

    So erklären sich die Grünen selbst ihren Erfolg

    Den aktuellen Zuwachs in den Umfragen erklärt Güllner mit der Unzufriedenheit der SPD-Wähler. „Die aus Unzufriedenheit mit anderen Parteien zu den Grünen Gewanderten werden damit aber keine Stammwähler der Grünen“, erklärt er. „Das war bereits im Vorfeld der letzten Bundestagswahl zu beobachten, als die nach der Nominierung von Baerbock und Laschet zu Kanzlerkandidaten zunächst hohen Werte der Grünen (die zeitweise sogar vor der Union lagen) bis zur Wahl wieder unter die 15-Prozent-Marke sanken.“ Die Partei verfüge also über kein festes Wählerpotenzial, auf das sie in jeder Lage vertrauen kann.

    Bei den Grünen selbst freut man sich dennoch über den Zuspruch – zumal der sich nicht nur in abstrakten Umfragewerten niederschlägt, sondern auch in der Mitgliederzahl. Bei 125.000 liegt sie Stand Februar, aktuellere Zahlen gibt es nicht – doch das war ein Höchststand. Die Kurve geht seit Jahren schon steil nach oben. 2018 lag sie noch bei 96.487 Mitgliedern, 1998 bei knapp 52.000.

    Die grüne Antwort nach innen und außen auf diese Entwicklung lautet „Verantwortung“. Fraktionsvize Andreas Audretsch, ein linker Grüner, glaubt: „Solange wir plausibel begründen können, warum wir in einer schwierigen politischen Lage so handeln, wie wir es tun, hören uns die Leute auch zu.“ Und er sieht in den aktuellen Krisen eine Art Bestätigung der grünen Warnungen. „Was wir seit vielen Jahren sagen, bewahrheitet sich derzeit mit unausweichlicher Härte und Klarheit“, sagt Audretsch. „Die Klimakrise wird angesichts brennender Wälder, Fluten und Dürren greifbar. Erneuerbare Energien sind günstig, schützen das Klima und machen uns unabhängig von Despoten wie (dem russischen Präsidenten Wladimir) Putin.“ Der Einsatz für Menschenrechte und Gerechtigkeit und eine klare Kante gegen Rechtsextreme würden zu Überlebensfragen liberaler Demokratien. (mit dpa)

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