Sahra Wagenknecht und die Linke - diese komplizierte Geschichte steuert auf ihr Finale zu. Ob, wann und wie die frühere Bundestagsfraktionschefin eine eigene Partei gründet, hat sie zwar immer noch nicht gesagt. Aber die Trennung von der Linken ist so gut wie vollzogen. In der Partei sortieren sich die Fronten. Am Sonntagabend kündigte ihre Vertraute und Nachfolgerin an der Fraktionsspitze, Amira Mohamed Ali, ihren Rückzug vom Amt an. Sie will im September nicht wieder kandidieren, und zwar explizit wegen des Bruchs der Parteispitze mit Wagenknecht.
Die Vorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler gaben sich bewusst gelassen. Sie bezeugten Mohamed Ali Respekt und Dank, sagten aber inhaltlich nichts. Parteivize Lorenz Gösta Beutin bekräftigte am Montag, Wagenknecht habe mit ihren Erwägungen für eine Konkurrenzpartei eine rote Linie überschritten. Die Parteispitze verteidige die Vielfalt in der Linken. "Aber wir werden auch kämpfen gegen die Zerstörung dieser Partei", sagte Beutin. Das zeigt, in der Linken haben viele die Nase voll vom ständigen Streit mit ihrer bekanntesten Genossin. Es herrscht bei vielen das Gefühl: Soll sie doch gehen.
Doch dürfte eine Wagenknecht-Partei nicht nur die Linke unter Druck setzen, sondern auch andere Parteien. Vor allem in Ostdeutschland weisen Umfragen einer "Liste Wagenknecht" großes Potenzial zu - die Erwartungen sind enorm.
Was bisher geschah
Wagenknecht liegt mit der 2022 gewählten Linken-Spitze um Janine Wissler und Martin Schirdewan über Kreuz - wie auch schon mit früheren Parteivorsitzenden. Seit sie öffentlich mit der Gründung einer eigenen Partei liebäugelt, spitzt sich der Konflikt zu. Im Frühjahr kündigte die Bundestagsabgeordnete an, nicht mehr für die Linke zu kandidieren. Wenige Wochen später konterten Wissler und Schirdewan. "Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht", beschlossen sie mit dem Parteivorstand und forderten Wagenknecht zur Rückgabe ihres Mandats auf. Sie lehnte das ab, faktisch änderte sich nichts.
Bekannt ist, dass Wagenknechts Anhänger hinter den Kulissen die Chancen einer neuen Partei ausloten und Vorbereitungen treffen. Einhellig heißt es jedoch, die Entscheidung liege allein bei ihr, und sie sei noch nicht gefallen. Unklar ist zum Beispiel, wer die Partei bundesweit organisieren und wer sie finanzieren würde.
Wofür eine Wagenknecht-Partei stehen könnte
Wagenknecht glänzt mit rhetorischem Talent und Charisma. Teil ihrer Anziehungskraft ist, dass sie inhaltlich gegen den Strich bürstet. Die 54-Jährige wirft ihrer Parteispitze vor, klassische linke Themen zu vernachlässigen: die Nöte der sogenannten kleinen Leute. In ihrem Buch "Die Selbstgerechten" ging sie mit urbanen sogenannten Lifestyle-Linken ins Gericht.
Sozial- und wirtschaftspolitisch vertritt sie "linke" Positionen für einen starken Sozialstaat und die Besteuerung von Konzernen und Wohlhabenden. Anders als die Mehrheit der Linken ist sie jedoch für die Begrenzung von Migration und Flüchtlingsaufnahme. Sie ist gegen allzu strikten Klimaschutz, wenn er für Bürger Kosten erhöht, etwa beim Autofahren oder Heizen. Trotz Ukraine-Kriegs ist sie für weitere Importe billiger russischer fossiler Energie, vor allem Gas. Ihre Thesen vertritt sie pointiert auf einem eigenen Youtube-Kanal und in Talkshows.
Wer mit Wagenknecht gehen würde
Zu Wagenknechts engen Vertrauten in der Bundestagsfraktion zählen die Abgeordneten Klaus Ernst, Alexander Ulrich, Sevim Dagdelen und Christian Leye. Mohamed Ali zeigte nun ebenfalls deutlich, wo sie steht, ebenso die Abgeordnete Jessica Tatti. Gingen sie mit in eine neue Partei und raus aus der Fraktion, würde diese ihren Status im Bundestag verlieren und damit auch Geld und Posten.
Wer darüber hinaus die Linke verlassen würde, ist unklar. "Wenn mit Sahra Wagenknecht eine neue linke Partei entsteht, werden sich ihr sicher viele Mitglieder und Mandatsträger anschließen", sagte Ernst kürzlich der "Münchner Abendzeitung" und bekannte seine eigenen Wechselambitionen. Die Wagenknecht-Gegner in der Linken bezweifeln jedoch, dass es viele wären.
Vorsorglich haben sächsische Linken-Abgeordnete neulich ihre Loyalität zur Partei versichert. Darunter ist auch der Leipziger Sören Pellmann, dem oft Nähe zu Wagenknecht nachgesagt wurde. Allerdings: Selbst wenn nur wenige sich einer Neugründung anschließen - geschwächt würde die Linke in jedem Fall. Und sie liegt in Umfragen bundesweit schon jetzt nur bei vier bis fünf Prozent.
Wer die neue Partei wählen könnte
Schon Ende 2022 fragte Institut Civey rund 5000 Menschen: "Könnten Sie sich grundsätzlich vorstellen, eine von Sahra Wagenknecht gegründete neue Partei zu wählen?" 30 Prozent der Befragten sagte ja oder eher ja, in Ostdeutschland sogar 49 Prozent. In Thüringen gaben in einer Umfrage Mitte Juli 25 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, eine Wagenknecht-Partei wählen zu wollen - wenn es sie gäbe und wenn jetzt Landtagswahl wäre.
Wie aussagekräftig solche Werte sind, ist unklar, solange es die Partei nicht gibt, kein Programm und kein Personal außer Wagenknecht. Dass sie selbst nächstes Jahr bei der Landtagswahl in Thüringen zur Wahl stünde, gilt als ausgeschlossen. Erste Zielmarke einer neuen Partei, sollte sie denn gegründet werden, wäre die Europawahl 2024.
Wagenknecht selbst rechnet damit, dass eine neue Partei der AfD Stimmen abjagen könnte. So sieht das die Rechtspartei auch selbst. Inhaltlich gibt es unter anderem Überschneidungen in der Begrenzung von Migration und bei der Kritik an Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Ähnlich ist der populistische Gestus mit Fundamentalkritik an etablierten Parteien. "Wir haben wirklich die dümmste Regierung in Europa", rief Wagenknecht im September vorigen Jahres im Bundestag.
Was das bedeuten würde
Wer zur AfD wegen deren rechtsradikaler Ansätze auf Distanz bleiben will, könnte bei Wagenknecht eine weniger verpönte Alternative finden. Möglicherweise könnten sich AfD und eine neue Partei die Stimmen von Protestwählern teilen. Oder Wagenknecht könnte weitere Potenziale heben.
Aber würde sie regieren wollen? Wahrscheinlicher ist, dass Regierungsmehrheiten für die übrigen Parteien künftig noch schwieriger zu finden sein werden. Vor allem in Ostdeutschland, wo allein die AfD in Umfragen zwischen 20 und 30 Prozent liegt, könnte es nur reichen, wenn alle anderen Parteien an einem Strang ziehen. Bisher sind sich allerdings CDU und Linke spinnefeind.
(Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa)