Mit dem Victory-Zeichen feierte der polnische Oppositions-Chef Donald Tusk den vielleicht größten Moment seines politischen Lebens. "Ich bin heute der glücklichste Mensch auf der Welt", sagte er. "Polen hat gewonnen, die Demokratie hat gewonnen. Das ist das Ende der PiS-Regierung." Der liberale Pro-Europäer könnte tatsächlich nächster Premier Polens werden – und den Kurs des Landes grundlegend verändern. Der Danziger hätte damit einen Kampf gewonnen, den viele für aussichtslos gehalten hatten.
Zwar holte die seit acht Jahren regierende rechtsnationale PiS-Partei bei der Wahl erneut die meisten Stimmen, verpasste aber die absolute Mehrheit. Wenn sich die Prognosen an diesem Dienstag bestätigen, könnten die drei Oppositionsparteien eine neue Regierung bilden – unter Führung des früheren EU-Ratspräsidenten Tusk.
Bleierne Gesichter sah man am Wahlabend in der Parteizentrale der PiS. Mit eingefrorener Mimik verfolgte Noch-Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Rede des Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski.
Ein Machtwechsel in Warschau könnte das Verhältnis zwischen Polen und den europäischen Partnern entspannen. Die PiS lag zuletzt im Dauerstreit mit Brüssel und verärgerte Deutschland mit immer neuen Forderungen nach Weltkriegsreparationen.
Wahl in Polen 2023: Höchste Wahlbeteiligung in Polen seit 1989
Die Polen spürten, dass es bei dieser Wahl um eine folgenschwere Richtungsentscheidung ging. Die Wahlbeteiligung lag ersten Erhebungen zufolge bei rund 73 Prozent – das wäre der höchste Wert seit dem Untergang des Kommunismus 1989. Der 66-jährige Tusk schaffte es, sowohl Intellektuelle als auch die sogenannten „einfachen Leute“ anzusprechen. Der Historiker ist in beiden Welten zu Hause, schließlich musste er wegen seiner Gewerkschaftsmitgliedschaft in den 80er Jahren als Maler und Reiniger von Industrieschornsteinen seine Familie ernähren. Durchsetzungsvermögen holte er sich außerdem in den Danziger Hinterhöfen, wo er sich als wenig zimperlicher Straßenfußballer hervortat. Schon von 2007 bis 2014 regierte er das osteuropäische Land.
Die PiS unterstellt Tusk immer wieder, eher europäische Interessen zu vertreten, als sich um Polen zu kümmern. Doch die Angstmacherei verfing nicht. In Brüssel war Erleichterung fast mit Händen zu greifen. Schließlich war die Wahl vielleicht die letzte Chance, das Abgleiten Polens in die Autokratie aufzuhalten. Und: Mit der Ablösung der PiS dürften auch euroskeptische Kräfte in anderen EU-Staaten geschwächt werden. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban etwa steht ohne seinen Verbündeten Morawiecki in Sachen EU-Verteufelung ziemlich alleine da.
Was in Polen geschieht, ist für alle Europäer folgenreich. Es ist das bei Weitem größte mittel- oder osteuropäische Land in der Union. Die Lage – der Staat grenzt an die Ukraine, Belarus, die russische Enklave Kaliningrad und die Ostsee – verleiht Polen zudem eine immense geopolitische Bedeutung. Es verfügt über ein stärkeres Militär als Deutschland. Und die Wirtschaft boomt.
Deshalb herrschte in Brüssel zuletzt fast schon so etwas wie Panik beim Gedanken an weitere vier Jahre mit den PiS-Spitzen am Verhandlungstisch. Sie verbreiteten selbst in diplomatischen Zirkeln Lügen und Halbwahrheiten und erwiesen sich als unzuverlässige Partner.
Eine der wichtigsten Reformen, die derzeit in der EU diskutiert werden, ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Warschau wehrte sich vehement. Tusk hingegen weiß, dass die EU sich erneuern muss, will sie handlungsfähig bleiben.
Es war ein smarter Zug des 66-Jährigen, sich nicht zu den Spielchen der PiS verleiten und erst gar nicht in die toxische Migrationsdebatte verwickeln zu lassen. Gleichwohl wissen sie in Brüssel, dass Polen zwar künftig mit einer liberal-europäischen Vision regiert werden dürfte, sich beispielsweise beim Thema Einwanderung aber weiterhin kritisch zeigen wird.
Bis zum Machtwechsel in Polen kann es noch dauern
Das offizielle Wahlergebnis soll an diesem Dienstag feststehen. Die polnische Verfassung schreibt vor, dass der Präsident dann einen Politiker damit beauftragt, eine Regierung zu bilden. Staatsoberhaupt Andrzej Duda, ein Zögling von PiS-Chef Kaczynski, hatte bereits vor der Wahl angedeutet, er werde sich an die bisherige Gepflogenheit halten, dem Vertreter der stärksten politischen Kraft diesen Auftrag zu erteilen – also der PiS. Das vorgeschlagene Kabinett müsste dann allerdings vom Parlament bestätigt werden. Scheitert dies, kann das Parlament mit seiner Mehrheit selbst eine Regierung bilden. Dies wäre dann die Stunde des Donald Tusk. Doch bis dahin dürften noch Wochen vergehen.