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Ostalgie: Beim Moped-Treffen in Brandenburg den Osten verstehen

Ostalgie

Beim Moped-Treffen in Brandenburg den Osten verstehen

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    Viele bunte Simson-Mopeds im brandenburgischen Germendorf: Das Ostalgie-Treffen auf einem Fußballplatz organisierte der Klub „Kultvögel“. Seinen Mitgliedern geht es dabei um mehr als um die in der DDR einst so beliebten Kleinkrafträder.
    Viele bunte Simson-Mopeds im brandenburgischen Germendorf: Das Ostalgie-Treffen auf einem Fußballplatz organisierte der Klub „Kultvögel“. Seinen Mitgliedern geht es dabei um mehr als um die in der DDR einst so beliebten Kleinkrafträder. Foto: Nadine Voeckler

    „Tja, der Osten lebt“, sagt Guido Beussel und bockt ein sonnengelbes Moped auf. Es ist ein Simson Kleinroller 51 aus dem Jahr 1981, besser bekannt unter dem Namen „Schwalbe“. Beussel setzt seinen altertümlichen Halb-Helm ab, brennt sich eine an und blickt um sich, als wolle er seine Worte unterstreichen. Auf dem Sportplatz in Germendorf, einem Ortsteil von Oranienburg, stehen über 800 Mopeds und Motorräder aus einem Land, das es nicht mehr gibt und das doch weiterlebt. Die meisten hören auf Vogelnamen. Neben den Schwalben gibt es noch Spatzen, Stare, Habichte und Sperber. Sie zwitschern aber nicht, sondern scheppern und hämmern. Rängtängtängtäng.

    Aus den Auspuffen kommt dicker Qualm. Die Fahrer stört das nicht, ganz im Gegenteil. Sie saugen ihn ein. Bei den Älteren und Mittelalten ist er der Geruch ihrer Kindheit, fehlt nur noch der Braunkohle-anteil der Rekord-Briketts. So roch der Osten bis 1990. Die Luft wurde dann schnell besser und vieles andere auch – aber so richtig gut wurde es dort nicht. Der Osten steht für Wirtschaftskrise, Jammerei, Undank, Neo-Nazis, Abwanderung. Die Zeitungen schreiben nach Wahlen von „Dunkeldeutschland“. Jetzt wollen Linke und AfD wegen der Energiekrise in den „neuen“ Bundesländern auch noch einen „heißen Herbst“ und einen „Winter der Wut“ entfachen.

    Guido Beussel auf seiner „Schwalbe“, Baujahr 1981. „Der Osten lebt“, sagt er.
    Guido Beussel auf seiner „Schwalbe“, Baujahr 1981. „Der Osten lebt“, sagt er. Foto: Christian Grimm

    Immer wieder: Ostdeutschland als Ansammlung von Problemen. „Der Osten lebt“, sagt Guido Beussel aus der Nähe von Oranienburg in Brandenburg. Aber welcher Osten soll das sein?

    Einer, der es wissen könnte, ist mit seinem Star aus der Hauptstadt angefahren gekommen. Es dauerte anderthalb Stunden. „Ich heiße Ronny“, sagt der Berliner und muss selbst lachen. „Der Ost-Ronny mit Y“. Der Vorname ist zum Ost-Klischee geworden. Ronnys Moped jedenfalls ist in den Farben der Volkspolizei lackiert, dunkelgrün und beige. Er erzählt, dass er oft angesprochen wird, wenn er mit ihm unterwegs ist. „Die Leute wollen sogar Fotos.“

    "Die Zusammengehörigkeit war früher besser“, sagt Ronny

    Er mag das Knattern, den Geruch und die Geschwindigkeit. Es hört sich komisch an, aber diese Vögel aus der DDR sind tatsächlich die schnellsten Mopeds. Denn der Einigungsvertrag zwischen BRD und

    Ronny war acht Jahre alt, als es mit der DDR zu Ende ging. So furchtbar viel hat er von dem Staat nicht mitbekommen, den seine Bürgerinnen und Bürger selbst abschafften. Und dennoch ist dieses Gefühl, dass der Zusammenhalt stärker war, bis heute weit verbreitet. Mehr noch: In einer Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks aus dem Oktober letzten Jahres sagten drei von vier Ostdeutschen, dass es unter ihnen ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl gebe. Bei den Nachwendekindern sagten das sogar 84 Prozent.

    Soziologen erklären diesen Zusammenhalt mit der Notgemeinschaft, die die Menschen in der DDR gegen SED-Diktatur und Mangelwirtschaft bildeten. Um voranzukommen, brauchte man andere. Da wurden zwei Moped-Räder gegen ein Waschbecken getauscht oder Beatles-Platten gegen ein Fahrrad. Handwerker mussten umgarnt, gehegt und gepflegt werden. Wie heute wieder. Den Genossen ein Schnippchen zu schlagen, war Volkssport. Diese Notgemeinschaft zerfiel dann mit dem Fall der Mauer, die Sehnsucht nach Gemeinschaft blieb. Und die Nostalgie, in diesem Fall: die Ostalgie.

    An den Ballfängen haben sie eine DDR-Fahne mit Hammer und Sichel aufgehängt, außerdem das blaue Banner der FDJ

    „Ich will die DDR nicht zurückhaben, ich bin kein DDR-Verfechter“, sagt Patrese Genz. Der 47-Jährige ist der Älteste bei den Germendorfern „Kultvögeln“, die das Ostalgietreffen auf dem Fußballplatz organisiert haben. An den Ballfängen haben sie eine DDR-Fahne mit Hammer und Sichel aufgehängt, außerdem das blaue Banner der FDJ. Ein paar Trabis dürfen natürlich auch nicht fehlen. Neben der Bratwurst am Grill der Freiwilligen Feuerwehr wird an einem Stand Ketwurst verkauft, der Hotdog der DDR. In der Mangelwirtschaft wurde auf saure Gurken und Röstzwiebeln verzichtet, es gab nur ein Würstchen in einem länglichen Brötchen mit Ketchup. Vier Euro kostet die Neuauflage, Detlef verkauft daneben für einen Euro Schmalzbrote inklusive Gurken.

    Knapp 30 Mitglieder machen mit bei den Kultvögeln. Alle fahren Mopeds von Simson, dem untergegangenen Hersteller aus Suhl im Thüringer Wald. Genz hat eine Schwalbe, die jetzt auf dem Grün in Reih und Glied neben den anderen Ost-Maschinen steht. Er lässt sie abends nicht vor dem Haus stehen, sondern wuchtet sie in seine Wohnung. Das Gefährt wiegt 80 Kilo. „Die wird sonst sofort geklaut“, sagt er. Nach der Wende hat er sein Moped verschenkt. Das war damals schließlich völlig out.

    Vor zwei Jahren hat er sich wieder eine "Schwalbe" gekauft - und neben dem Preis nochmals knapp 3000 Euro hineingesteckt

    Fast jede Familie hatte eines. In der DDR durfte man mit 14 Jahren den Führerschein für Kleinkrafträder machen. Die Mopeds waren ein beliebtes Geschenk zur Jugendweihe, der sozialistischen Ersatz-Konfirmation. Oder es gab Geld. Anders als der Trabi waren die Zweiräder mit dem 50-CCM-Motor recht gut verfügbar. „Zur Jugendweihe haben die meisten 1000 bis 1500 Ost-Mark bekommen. Dafür konntest du ein Moped holen oder den Kassettenrekorder SKR 700“, erzählt Genz.

    Vor zwei Jahren hat er sich wieder eine Schwalbe gekauft. Dafür musste er deutlich mehr zahlen als früher. Er hat 2.000 Euro hingelegt und nochmals knapp 3000 Euro hineingesteckt, wie er – etwas ungläubig – berichtet. Allein der hyazinthrote Lack hat 300 Euro gekostet. „Da ist ein Mercedes in der Farbe an mir vorbeigefahren und da wusste ich, das muss es sein.“ Das, was Genz heute mit seiner Schwalbe macht, wäre zu DDR-Zeiten nicht möglich gewesen: „Wenn ich mit so einem Wunsch zu einem DDR-Lackierer gegangen wäre, der hätte mich ausgelacht.“

    Solche Wünsche sind inzwischen nur noch eine Frage des Geldes. Ein Schwalbe-Fanatiker hat ein Luftfahrwerk in sein glänzend schwarzes Spielzeug eingebaut und präsentiert es beim Ostalgie-Treffen. Die Schwalbe liegt ganz flach, doch wenn ihr Besitzer am Hebel zieht, pumpt sie sich mit Luftdruck nach oben. Ein halbes Jahr war er jeden zweiten Tag in der Garage und hat geschraubt und gefrickelt. Der Motor hat auch eine Kur bekommen. Auf einem Leistungsprüfstand, den der Simson-Club Bergsdorf rangekarrt hat, bringt die Schwalbe sieben PS. Sie steht auf einer Rolle und das Gas wird bis zum Anschlag aufgerissen. Der Motor bellt. Als die Zahl „7“ erscheint, nicken die Kenner lobend. Vom Werk aus hatten die Mopeds dreieinhalb PS. Und so geht es unter den Simson-Verrückten hier in den Gesprächen auch immer darum, ob „man das eingetragen kriegt“ oder sonst durch das Aufbohren die Betriebserlaubnis erlischt.

    Organisiert haben das Simson-Treffen die "Kultvögel"

    Der Jüngste bei den Kultvögeln ist Maurice Bünger. Er ist 19 Jahre alt. Den Star fand er verstaubt bei seinem Opa in der Scheune und fing an: Gemeinsam hauchten sie ihm neues Leben ein. Heute glänzt das Moped in Weinrot und Weiß. Die Technik ist simpel, Ersatzteile werden mittlerweile nachproduziert. Ob er sich als besonders ostdeutsch fühlt? Maurice hebt die Schultern. „Ich finde die Kisten einfach cool.“ Er ergänzt. „Ich kenne natürlich die ganzen Erzählungen über früher von Mutti, Oma und Opa.“

    Kein Einzelfall, weiß Nicole Auerswald im Verkehrsmuseum in Dresden. „Generation Simson“ heißt die Sonderausstellung, die sie mit einem Kollegen kuratiert hat. „Vor allem die Modelle S50 und S51 haben sich speziell an Jugendliche gerichtet. Und das funktioniert 40 Jahre später immer noch.“

    Als die Dresdnerin die Schau plante, wusste sie auch, wie wichtig der Geruch ist. Sie selbst fährt eine gelbe S50. Weil aber im Museum kein Motor laufen kann, beauftragten die Macher einen Parfümeur, den Zweitakter-Duft nachzubilden. Das Ergebnis kann in Flaschen im Museumsshop gekauft werden. Einige Jugendliche besprühten sich sogar damit. Nicole Auerswald sagt: „Wir wussten schon, dass Simson ein Rennerthema ist, aber wir wurden wirklich überrannt.“ Die Ausstellung sollte Mitte August enden, ist nun allerdings bis Anfang November verlängert worden.

    Ronny mit Sohn Lucas auf ihren Mopeds. Ronny war acht Jahre alt, als es mit der DDR zu Ende ging. „Die Zusammengehörigkeit war früher besser“, sagt er.
    Ronny mit Sohn Lucas auf ihren Mopeds. Ronny war acht Jahre alt, als es mit der DDR zu Ende ging. „Die Zusammengehörigkeit war früher besser“, sagt er.

    Für die Museumspädagogin hat der Erfolg viel mit der ostdeutschen Identität zu tun. „Viele verbinden das mit Heimat.“ Bei Auerswald haben sich auch Simson-Fahrer aus Schleswig-Holstein angemeldet, die hunderte Kilometer auf dem Bock zurückgelegt haben. Es gibt Simson-Klubs in vielen westdeutschen Städten, sogar in der Schweiz. Dort funktioniert der Charme ohne den gefühlsmäßigen Rattenschwanz, der in Ostdeutschland dranhängt. Die Szene tauscht sich in WhatsApp-Gruppen, auf Facebook und Youtube aus.

    Schon das Sandmännchen kam ja auf einer Schwalbe zu den Kindern

    Weil die Zweiräder aus Suhl mittlerweile so teuer sind, grasen Händler Polen, Tschechien und Bulgarien ab, wohin sie einst von der DDR exportiert wurden. Dort sind sie billiger. Noch. Und zwischen Frühjahr und Herbst gibt es zahlreiche Treffen, wie das in Germendorf. Die meisten und größten sind auf dem Gebiet der verblichenen DDR. Dort fliegen Schwalbe, Star und S50 fast jedes Wochenende auf einem Sportplatz ein.

    Und mit ihnen etwas, das nicht durch den Kauf erworben werden kann. Schon das Sandmännchen kam ja auf einer Schwalbe zu den Kindern – und das tut es bis heute.

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