Es könnte eine märchenhafte Geschichte sein. Der Aufstieg eines mittellosen Dorfjungen, der barfuß zur Schule ging und danach Schafe und Kühe hütete. Der einst an einem Bahnübergang Hühnchen verkaufte, um die Schulgebühren seiner Geschwister zu bezahlen. Der zum Multimillionär aufstieg und nun als Anwalt der Armen zum Präsidenten Kenias gewählt wurde, eines der politisch und wirtschaftlich wichtigsten Länder Afrikas.
Doch Kenias Politik ist keine Arena der einfachen Wahrheiten. Und so dürfte es noch einige Zeit dauern, bis der bisherige Vize-Präsident William Ruto, 55, tatsächlich als Präsident vereidigt wird. Als die Wahlkommission IEBC am Montag Rutos denkbar knappen Sieg (50,49 Prozent) über den aus reichen Verhältnissen stammenden Raila Odinga (48,85) verkündete, distanzierten sich umgehend vier der sieben Wahlkommissionsmitglieder. Sie könnten das Ergebnis wegen der „undurchsichtigen“ Auszählung nicht unterstützen, sagte die stellvertretende IEBC-Vorsitzende Juliana Cherera. Details nannte sie nicht. Sichtlich besorgt appellierte sie aber an das Volk, Ruhe zu bewahren.
Schon 2007 gab es viele Tote nach einem Streit um das Wahlergebnis
Denn derartige Ereignisse sind inzwischen so etwas wie der Refrain kenianischer Wahlen geworden. Sie werden seit dem manipulierten Urnengang im Jahr 2007 international mit großer Sorge beobachtet – seinerzeit nahmen Proteste schnell eine ethnische Dimension an. Über 1000 Menschen wurden getötet, 600.000 mussten fliehen. 2013 gab es kaum Gewalt, dafür fiel das biometrische System zur Wählerregistrierung aus. Und 2017 wurden die Wahlen gerichtlich wegen Unregelmäßigkeiten annulliert. Bei den folgenden Unruhen gab es mindestens 33 Tote. Der schon damals unterlegene Odinga boykottierte die Neuauflage mit Verweis auf die angeblich parteiische Wahlkommission schließen . Der 77 Jahre alte Politiker wird wieder die Gerichte bemühen, er bezeichnete das Wahlergebnis als „null und nichtig“. Kenia stehen bange Wochen bevor, schließlich hatte sich die Gewalt im Jahr 2007 auch erst nach der Bekanntgabe des Ergebnisses ausgebreitet. Trotz der nunmehr seit 15 Jahren andauernden Versuche, die Auszählung transparent und rasch zu gestalten, zog sich dieses Unterfangen sechs Tage hin.
Dass Fernsehsender und Zeitungen bisweilen eigene stark voneinander abweichende Ergebnisse präsentierten, heizt die Stimmung weiter an. Vor einigen Tagen wurde ein Mitarbeiter eines Wahllokals tot aufgefunden, schon 2017 war der damalige IT-Verantwortliche der Wahlkommission ermordet worden. Stabilität in Kenia ist in diesen Tagen geopolitisch so wichtig wie lange nicht. Das politisch chronisch turbulente Ostafrika wurde zuletzt vom Tigray-Krieg in Äthiopien geschwächt, in Somalia erlebte die Terrormiliz Al-Shabaab einen Aufschwung. Kenias Volkswirtschaft ist die größte der Region, 80 Prozent des ostafrikanischen Handelsvolumens werden über die kenianische Hafenstadt Mombasa abgewickelt.
Kenia hat sich klar vom Kreml distanziert
Zudem gehört Kenia zu den wenigen großen afrikanischen Nationen, die sich nach der russischen Invasion in der Ukraine klar vom Kreml distanzierten – auch mit einer herausragenden Rede seines UN-Botschafters im Sicherheitsrat der UN. China ist Kenias größter bilateraler Handelspartner, das Land pflegt aber auch seine westlichen Bindungen. Die USA haben in Manda Bay eine Militärbasis. Im Jahr 2018 wurden die diplomatischen Beziehungen beider Länder in den Rang einer „strategischen Partnerschaft“ aufgewertet.
Kaum ein Land in Afrika verfügt über eine so umfangreich diversifizierte Wirtschaft. Und kaum ein Land brachte zuletzt mehr imposante Infrastrukturprojekte auf den Weg. Doch von dem teilweise imponierenden Wirtschaftswachstum profitiert überwiegend eine kleine Elite. Der Ukraine-Krieg treibt die Lebensmittelpreise weiter in die Höhe, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hatten vielen Kenianer schon zuvor die Existenzgrundlage entzogen. Jeder dritte Kenianer muss sein Leben mit weniger als zwei Dollar am Tag bestreiten. Eine Million junger Menschen drängen jährlich auf den Arbeitsmarkt. Nur für jeden zehnten davon gibt es einen Job im formellen Sektor. Unter der Führung des scheidenden Präsidenten Uhuru Kenyatta hat sich die Staatsverschuldung seit dem Jahr 2013 vervierfacht. Die Bedienung dieses Schuldenberges lässt immer weniger Spielraum, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das wird es Ruto schwer machen, seine üppigen Versprechen zu halten – wie etwa die Zusicherung von Krediten mit extrem niedrigen Zinsen und staatlicher Unterstützung bei der Schaffung von Millionen Jobs. Das gleiche aber gilt für Odinga, der zum fünften Mal bei Präsidentschaftswahlen scheiterte. Er hatte den ärmsten Familien im Land ein Grundeinkommen in Höhe von knapp 50 Euro in Aussicht gestellt. Die Beteuerung eines Populisten.